Die Notwendigkeit des Schreibens

Bücher Zweimal erhielt Louis Paul Boon den belgischen Staatspreis, in Deutschland blieb er unbekannt. Der Alexander Verlag legt nun zwei Werke des Antifaschisten und Modernisten vor

Hätte er die Sprache weniger wichtig genommen als die Politik, der Ruhm als „schreibender Arbeiter“ wäre ihm sicher gewesen. Die nötige Biografie brachte er mit: 1912 als Sohn einer Arbeiterfamilie in Flandern geboren, entwickelte Louis Paul Boon früh künstlerische Neigungen. Sein Vater war Lackierer, seine Mutter hatte ein Farbengeschäft, er selbst wollte Maler und Dichter werden. Aber die Krankheit des Vaters fesselte ihn an die Familie, er wurde Autolackierer und kam mit kommunistischen und anarchistischen Gruppen in Kontakt. Die Entscheidung zwischen Kunst und Politik nahmen ihm die Zeitläufte ab: Im Zweiten Weltkrieg wurde er zum Militärdienst eingezogen. Er kämpfte für den antifaschistischen Widerstand, geriet nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 in Gefangenschaft und übernahm 1945 die Redaktion der Roten Fahne, der Zeitung der niederländischen Kommunisten. Das Schreiben setzte er fort, er erhielt zweimal den belgischen Staatspreis. Den Literaturnobelpreis, für den er im Gespräch war, bekam er nie. In Deutschland, mit dessen Verbrechen sich ein großer Teil seines Werks befasst, blieb er unbekannt. Er starb 1979 in seiner Heimat, ein an die Provinz geketteter Kosmopolit.

Doch Boon war kein Vertreter des sozialistischen Realismus. Sein so kalter wie hypnotischer Protokollstil erinnert an den Nouveau Roman oder die Prosa Becketts; seine Experimente gehen oft über die westeuropäische Avantgarde hinaus. Seine 1955 erschienene Prosa Menuett erzählt in drei aufeinander bezogenen, sich widersprechenden Monologen die Dreiecksgeschichte eines Mannes, seiner Frau und eines Dienstmädchens. Über das obere Drittel der Seiten läuft ein vierter Text, der die ­Geschichte im Meldungsstil spiegelt und kommentiert. Erst alle vier Ebenen ergeben das ganze Bild, das freilich widersprüchlich bleibt. Menuett ist das deutlichste Beispiel dafür, wie der naturalistische Anspruch ­sezierender Wirklichkeitsdarstellung bei Boon die Grenzen des Realismus sprengt.

Somatischer Abscheu

Die Erkenntnis, dass man mit dem Naturalismus brechen muss, um ihm die Treue zu halten, ist schon in Boons frühem Werk deutlich. Studieren kann man sie an dem Bericht Mein kleiner Krieg von 1947, in dem Boon seine Kriegserfahrungen verarbeitet. Der Alexander Verlag, der bereits Menuett in hervorragender Übersetzung vorlegte, hat nun auch diesen Text veröffentlicht. Das Buch setzt sich aus knappen Szenen zusammen, deren Chronologie sich nur bruchstückhaft erschließt. Teils muten sie wie Tagebucheinträge an, teils wie Parabeln. Ihnen folgen Passagen, die das Dargestellte reflektieren und ergänzen. Der ­Duktus ist gehetzt, der Text verdichtet. Er entspricht einer scheinbar ausweglosen Wirklichkeit, die erzählt werden muss, obwohl dafür kaum Zeit ist. Dass das Erzählen notwendig ist, wird zu Beginn gesagt: „Man würde lieber ein anderes Buch schreiben – großartiger, tiefsinniger, schöner. Am nächsten Tag möchte man am liebsten die eigene Feder zertreten – doch wohl oder übel würde man sich am Tag darauf eine neue Feder kaufen müssen – denn allem zum Trotz wird man schreiben, es ist ein natürliches Bedürfnis.“

Grundton des Buches ist ein moralischer wie somatischer Abscheu vor dem Pathos der Dichter, vor dem Heroismus und dem Widerstand, zu dem Boon genötigt wurde. Abscheu auch vor dem Schreiben selbst, das in einer glücklichen Welt nicht so wichtig wäre: „Ich bin ein Mensch, der sich nur ein bisschen Essen auf dem Tisch wünscht und ein paar Kohlen im Ofen, der sich die Wärme des Bettes wünscht und den Körper der Frau und die Augen des Kindes, der sich nicht als Nabel der Welt fühlt, sondern als Mensch unter den Menschen, der die Menschen liebhat und nicht die Vaterländer.“ Dass an den Vaterländern wenig Liebenswertes ist, macht wiederum das Schreiben nötig. Weil er dieser Not keinen Sinn abzwingt, sondern auf ihr Ende hofft, gerät Boons Bericht so eindringlich wie verbindlich.

Menuett Louis Paul Boon Alexander 2011, 152 S., 14,99

Mein kleiner Krieg Louis Paul Boon Alexander 2012, 148 S., 14,90


Magnus Klaue schrieb im Freitag zuletzt über den bayerischen Kabarettisten Gerhard Polt

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden