Passionierte Leser sind längst nicht mehr daran zu erkennen, dass sie sich bevorzugt in Buchläden aufhalten. Die sich dort heutzutage tummeln, sind eher passionierte Buchkäufer, und das ist eine völlig andere Spezies. Der passionierte Buchkäufer will sich regelmäßig ein Buch kaufen, der passionierte Leser kauft sich auch ein halbes Jahr lang keines, wenn er nichts findet, was ihn reizt. Der Buchkäufer steht vor den protzig zu Wolkenkratzern aufgetürmten Angeboten in den Läden und denkt sich: „Was es alles Neues gibt!“ Der Leser denkt sich, wenn er dort überhaupt einmal steht: „Jetzt weiß ich, was ich alles nicht brauche.“ Ihm ist das Lesen gerade nicht, was es für die meisten Käufer ist, die dem Buchhandel trotz weitverbreitetem Gewohnheits-Analphabetismus steigende Absatzzahlen bescheren: eine „Kulturtechnik“ oder „Kompetenz“. Wer aus Leidenschaft Bücher liest, findet nicht nur die Buchabteilungen der Medienkaufhäuser degoutant – von Messen, wo sich die Kleinverlage hundehüttengroße Stellplätze teilen müssen und uninteressante Autoren von uninformierten Moderatoren interviewt werden, ganz zu schweigen. Auch der Einzelhändler ist ihm zunehmend ein Gräuel, der aus purem Anpassungsdruck sein Sortiment auf bessere Bestseller, Koch- und Kinderbücher umstellt und alles, was älter als ein Vierteljahr ist, aus den Regalen wirft.
Solcher Ausschuss – der Fachmann spricht von „Remittenden“ – landet früher oder später in den Antiquariaten. An ihrem Bestand lässt sich ablesen, wie gut selbst die jüngstvergangene Literatur im Vergleich zu dem gewesen ist, was auf der jeweiligen Tagesordnung steht. Doch da Antiquare die Technik des Wolkenkratzerbauens selten beherrschen oder sich ihr verweigern, werden deren Öffnungszeiten immer kürzer und die Einnahmen aus dem Straßenverkauf immer karger. Deshalb ist es ein Glück für Passionsleser – und das sind Antiquare ebenso wie ihre Kunden –, dass es das Internet gibt. Ausgerechnet auf die archaische Tätigkeit des passionierten Lesens trifft die Behauptung, dass der technische Fortschritt auch ein sachlicher sei, wirklich zu. Ohne das Internet wären Buchantiquare längst ebenso vom Erdboden verschwunden wie ihr Publikum. Hier gibt es fast alles, und das Beste, das selten das Beliebteste ist, oft zum kleinen Preis. Nur hier funktionieren die Gesetze des freien Marktes noch, die vom Racket der Medienoligarchen korrumpiert worden sind. Nur hier kann man sicher sein, dass Rimbaud nicht für eine Cognacmarke und Robert Walser nicht für Martins Bruder gehalten wird. Und nur hier erwirbt man mit einem neuen Buch, eben weil es ein altes ist, immer auch ein Stück historische Erfahrung. Deshalb hat das Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher dem Zentralverzeichnis lieferbarer Bücher längst den Rang abgelaufen. Und der Passionsleser muss sich nicht einmal durch die Massen unangenehmer Menschen kämpfen, die in Deutschland gewohnheitsmäßig Einkaufszentren und Messehallen bevölkern, um zu bekommen, was er begehrt.
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