Bourgeois und Citoyen sind widersprüchlich aufeinander bezogene Begriffe. Sie bezeichnen die Aufspaltung des bürgerlichen Individuums in öffentliche und private Person und reflektieren einen Gegensatz: In der bürgerlichen Gesellschaft wird das Private der Subjekte (Staat und Öffentlichkeit haben keinen Zugriff) erst durch ihren Status als Wirtschaftssubjekte und Rechtspersonen gestiftet. Es gibt den Bourgeois nicht ohne den Citoyen, zugleich bezeichnen beide Begriffe keine Sozialcharaktere, sondern einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Dieser wird in den echten Individuen verkörpert, geht in ihnen jedoch ebenso wenig auf wie die Individuen in ihm.
Kapitalismus als Körper
Das Vorhaben des italienischen Literaturwissenschaftlers Franco Moretti, den Typus des
etti, den Typus des Bourgeois als „Schlüsselfigur der Moderne“ zu beschreiben, ist daher von vornherein problematisch. Eine Geschichte der Bourgeoisie ließe sich zwar anhand der sich wandelnden Typologie des Bourgeois erzählen, beides ist aber nicht identisch; allenfalls spiegelt sich in den Erscheinungsformen des Bourgeois die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft.Moretti versucht dieser Schwierigkeit beizukommen, indem er den Begriff des Bourgeois als primär von historischem Interesse einführt: „Es ist noch gar nicht so lange her, dass kein sozialwissenschaftlicher Ansatz auf diesen Begriff verzichten mochte; heute kann es Jahre dauern, bis man ihm mal wieder begegnet.“ Gedeutet wird dies als Resultat der Abstraktion gesellschaftlicher Herrschaft: „Der Kapitalismus ist mächtiger denn je, doch seine menschliche Verkörperung scheint vollkommen von der Bildfläche verschwunden.“Placeholder authorbio-1In dieser Formulierung, die voraussetzt, dass der Kapitalismus, als er weniger mächtig war, sich tatsächlich in einer Gruppe von Menschen verkörpert habe, steckt ein Angebot an die Leser: Indem er den Typus des Bourgeois anhand seiner Figurationen und Stile rekonstruiert, will Moretti dem Kapitalismus aus der historischen Rückschau heraus Gestalt verleihen. Eine Gestalt, die sich nicht zuletzt am sprachlichen Stil der bürgerlichen Epoche zeige, die ökonomisch revolutionär, kulturell aber von Gleichmaß geprägt gewesen sei: „Erzählungen, Erzählstile: In ihnen habe ich den Bourgeois gefunden. Vor allem aber im Stil (…) Nicht etwa der Gleichgewichtsverlust, sondern die Regelmäßigkeit ist die große narrative Innovation des bürgerlichen Europas.“ Das zweite Charakteristikum neben der Regelmäßigkeit und Nüchternheit bourgeoiser Sprache sei das „Auftreten bestimmter Stichworte“ wie Nützlichkeit, Effizienz und Komfort.Den Begriff Stichwort, den Moretti von Raymond Williams übernimmt, soll helfen, die „mehr aus unbewussten grammatischen Mustern und semantischen Assoziationen denn aus klaren und eindeutigen Ideen bestehende ‚Mentalität‘ des bourgeoisen Zeitalters zu rekonstruieren“. In Wahrheit dient er eher dem Zweck, eine konventionelle Begriffs- und Mentalitätsgeschichte als Sozialgeschichte auszugeben.Placeholder infobox-2Dass die Geschichte der kulturellen Repräsentationen des Bürgertums eine andere ist als die seiner realen Entwicklung; dass Ökonomie und Fantasie sich nicht aufeinander abbilden lassen, sondern einander in die Quere kommen und widersprechen können; dass Vorstellungen über den Typus des Bourgeois und seinen Stil mehr darüber aussagen, wie die bürgerliche Gesellschaft (zu der nicht nur das Bürgertum gehört) über sich selbst denkt, als über ihre wirkliche Konstitution: Davon scheint Moretti nie gehört zu haben. Und weil Moretti kaum einen Gedanken auf das widersprüchliche Verhältnis zwischen Ideologie, Fantasie und Realgeschichte verwendet, wundert es auch nicht, dass ihm zu den „Stichworten“ bourgeoiser Typologie nur Gemeinplätze einfallen: Der Tagesablauf Robinson Crusoes in Daniel Defoes Roman als Prototyp des Prinzips der Nützlichkeit, Wilhelm Meisters Wanderjahre als Inszenierung des Primats der Effizienz, wieder Robinson Crusoe als Plädoyer für einen Komfort, der „die täglichen Notwendigkeiten angenehmer macht“.Nur IllustrationenAbgesehen davon, dass literarische Texte – wie Zeitungen und populäre Handbücher – von Moretti nur als Illustrationen der Thesen dienen, nehmen auch die Thesen nirgends die Widersprüche in den Blick, die die Figur des Bourgeois erst hervorbringen: dass die bürgerliche Gesellschaft zwar einem „protestantischen Arbeitsethos“ folgt und einen „Stil der Zweckhaftigkeit“ hervorbringt, zugleich aber den Luxus im Massenkonsum verallgemeinert; dass die genuin bürgerliche Prosa Gustave Flauberts keinem Zweckdenken, sondern dem durch die bürgerliche Kunstautonomie erst entstandenen Ideal einer poésie pure folgt; dass Robinson als Abenteurer auch ein Gegenbild zur bürgerlichen Epoche ist. Ganz zu schweigen von den Unterschieden zwischen der Konstitution des Bürgertums im republikanischen Frankreich, im früh industrialisierten Großbritannien und im nie wirklich bürgerlichen Deutschland.So spricht Franco Morettis Buch, obwohl es ja etwas rekonstruieren will, weniger über die Epoche der Bourgeoisie als vielmehr über die Gegenwart. In der scheint das Bürgertum nur noch fragmentiert, eben in Form von „Typen“ und „Stichworten“, zugänglich zu sein.Unsere Vorstellung vom Bourgeois sagt mehr aus als seine reale Konstitution.Placeholder infobox-1