Ein Armutszeugnis

Sprachpflege Unlängst ist eine Liste mit sozialen Unwörtern erschienen. Aber sollte man „arbeitslos“ wirklich verbieten? Man kann diese Realität doch nicht einfach wegzaubern
Ausgabe 10/2013
Ein Armutszeugnis

Mag die Konjunktur in einer Krise stecken, bei der Produktion neuer Wörter sind die Deutschen kreativ wie nie zuvor. Der jüngst veröffentlichte „Bericht zur Lage der deutschen Sprache“, der von einer Forschungsgruppe um den Sprachwissenschaftler Wolfgang Klein an der Berliner Akademie der Wissenschaften erstellt worden ist, beziffert den Wortbestand der Deutschen für den Zeitraum von 1995 bis 2004 auf mehr als 5,3 Millionen Wörter (per Computer erfasst). Zwischen 1948 und 1957 seien es noch kaum mehr als fünf Millionen gewesen, zwischen 1905 und 1914 sogar nur etwa 3,7 Millionen. Zu den Wörtern, die den Sprachschatz in den vergangenen Jahren bereichert haben, dürfte „Zeitscheibe“ gehören. Das ist der Begriff, den die Forscher verwenden, um den Zeitabschnitt zu bezeichnen, der als Grundlage für die statistische Erfassung der Wortbestandsentwicklung gewählt wird. So hat die Wissenschaft zu dem Prozess, den sie untersucht, ihr Scherflein beigetragen.

Dass die bloße Zahl der in einer Sprache während eines bestimmten Zeitraums verwendeten Wörter bereits ein Beleg für sprachliche Innovationskraft sei, wird allerdings niemand behaupten wollen. Abgesehen davon, dass sich eine Sprache nur entwickeln kann, weil die Gesamtheit der in ihr möglichen Wörter den Sprechenden nie vollständig präsent ist, scheinen sich nicht wenige der neuen Wortschöpfungen eher sprachlichen Unfällen als der produktiven Einbildungskraft zu verdanken. Die diversen Bremsen, mit denen die Menschen seit einiger Zeit traktiert werden (Schuldenbremse, Mietbremse), sind ein Indiz dafür, dass viele Neologismen, insbesondere aus dem Dunstkreis von Politik und Medien, eher zur Verarmung der Sprache beitragen, als sie zu bereichern. Dass die meisten Wörter, die neu in den Duden aufgenommen werden, im Grunde nicht neu, sondern Entlehnungen aus anderen Sprachen oder Kombinationen bereits bekannter Wörter sind, sei nebenbei erwähnt.

Elaborierte Sprachkosmetik

Es gibt in Deutschland zwei Institutionen, die fragwürdige sprachliche Innovationen anprangern und nicht nur sprach-, sondern auch gesellschaftskritische Ziele verfolgen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) kürt seit 1991 „Unwörter des Jahres“, seit 1994 ist für deren Auswahl eine unabhängige Jury zuständig. Dazu kommt neu die 1991 als Sektion des Europäischen Armutsnetzwerks gegründete Nationale Armutskonferenz (nak), die sich unter dem Motto „Armut ist falsch verteilter Reichtum“ für eine „gerechte Wohlstandsverteilung“ einsetzt; sie hat kürzlich eine Liste sozialer Unwörter erstellt. Beider Intentionen ähneln sich, obgleich bei der GfdS eher der sprachkritische Anspruch im Mittelpunkt steht, während die nak für den sozialen Gehalt diskriminierender oder euphemistischer Wörter sensibilisieren möchte.

Es genügt allerdings ein Blick auf die gekürten „Unwörter“ und die Begründungen der Jurys, um zu erkennen, dass beide Initiativen entgegen ihrem Anspruch im Grunde weder Sprachkritik noch die Sensibilisierung für sprachliche Nuancen betreiben. Was sie als „Sensibilisierung“ und „Sprachkritik“ bezeichnen, zielt eher darauf ab, den Bürgern die Internalisierung der Regeln politischer Korrektheit zu erleichtern und den Mächtigen im Lande zu helfen, ihre Funktion im gesellschaftlichen Prozess effektiver sprachlich zu verschleiern. Fast schon klassische Beispiele sind die von der nak angeprangerten Wörter „arbeitslos“ und „bildungsfern“.

Sprachkosmetik

Ersteres, so fordert die nak, möge durch „erwerbslos“ ersetzt werden, „weil es viele Arbeitsformen gibt, die kein Einkommen sichern“. Letzteres bezeichne „vom Bildungswesen nicht Erreichte“, schreibe also den Individuen einen Mangel zu, an dem die Institutionen schuld seien. Was als Verbindung von Sprach- und Ideologiekritik erscheint, ist nichts als eine Empfehlung zur elaborierteren Sprachkosmetik: Erwerbsarbeit ist jene Form von Arbeit, für die man Lohn erhält. Es gibt jedoch nicht nur Arbeits-, sondern auch immer zahlreichere Erwerbsformen, mit denen sich der Lebensunterhalt nicht sichern lässt. Das Wort „arbeitslos“ durch „erwerbslos“ zu ersetzen, trägt also nichts zu Erkenntnis oder gar Kritik von Verhältnissen bei, die die Menschen zwingen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um sich am Leben zu erhalten.

Der in der Tat abstoßende Begriff „bildungsfern“ wiederum ist selbst bereits ein Euphemismus für „ungebildet“ und soll darauf hinweisen, dass die vermeintlich Ungebildeten bildungsfähig und der Bildung nur infolge sozialer Marginalisierung fern seien. Ihn durch die unhandlichere Formulierung „vom Bildungswesen nicht Erreichte“ zu ersetzen, würde nicht nur verleugnen, dass Arme sich nicht von heute auf morgen in Gebildete verwandeln lassen, weil Armut nicht einfach ein hässliches Kleid ist, das sich mit etwas Geld durch ein schöneres ersetzen lässt, sondern die von ihr Betroffenen bis ins Innerste prägt. Es wäre auch unfreiwillige Propaganda für ein Bildungswesen, das alle und jeden partout erfassen muss. Mit einer Sprach- und Gesellschaftskritik, die ihren Namen verdient, hat das nichts zu tun.

Die Herdprämie ...

Stattdessen wäre es an der Zeit, die Sprachverwendung der vorgeblichen Sprachkritiker genauer zu beleuchten. Die GfdS bezeichnet es in ihrer Grundsatzerklärung als ihr Ziel, den Blick „auf unangemessene oder inhumane Formulierungen im öffentlichen Sprachgebrauch“ zu lenken. Anhand welcher Kriterien aber lässt sich beurteilen, ob ein bestimmtes Wort „inhuman“ ist?

Und sind nicht gerade „inhumane“ Wörter den inhumanen gesellschaftlichen Bedingungen mitunter „angemessener“ als humane? Das Wort „Humankapital“, das die GfdS bereits 2004 zum „Unwort des Jahres“ erklärte und ein Evergreen aus dem Wörterbuch des Unmenschen (Dolf Sternberger) ist, eignet sich als Beispiel. Menschen, so wird bei Verwendung des Worts empört entgegnet, seien kein „Kapital“, wer so rede, reduziere sie auf ihre Funktion in der kapitalistischen Vergesellschaftung. Darauf aber sind sie, solange jene Gesellschaftsform besteht, ohnehin reduziert, ob sie es wollen oder nicht. Das Wort bezeichnet also nichts anderes als einen Aspekt der sozialen Wirklichkeit. Ein Unternehmer, der sich mit philanthropischer Emphase an die Lohnabhängigen anbiedert, indem er beteuert, sie als „ganze Menschen“ ernst zu nehmen, redet nicht humaner, sondern inhumaner als jemand, der ihnen über die Bedeutung ihres unverwechselbaren Menschseins für den Betrieb keine Illusionen macht.

Völlig absurd wird es bei jüngeren „Unwörtern“. Am Wort „alleinerziehend“, das in der Liste der nak zuoberst steht, wird moniert, es sage „nichts über mangelnde soziale Einbettung oder Erziehungsqualität aus“. Beides werde jedoch „häufig mit ‚alleinerziehend’ assoziiert“. Dem Wort, das für sich genommen die Beschreibung des Faktums ist, dass eine Person allein für die Erziehung verantwortlich ist, wird also angekreidet, dass viele Menschen ihm negative Konnotationen zuschrieben. Der Bedeutungsgehalt des Wortes und die mit ihm verbundenen „Assoziationen“ werden einfach gleichgesetzt.

Das Wort „Herdprämie“, das die GfdS 2007 zum „Unwort des Jahres“ ernannte, wird von der nak beanstandet, weil es „unabhängig von der Positionierung gegenüber dem gemeinten Betreuungsgeld Frauen verunglimpft“. Allerdings wird das Wort gar nicht „unabhängig von der Positionierung gegenüber dem gemeinten Betreuungsgeld“ verwendet, sondern enthält bereits dessen Kritik – und zwar im Sinne eines Begriffs von Emanzipation, der die Frauen eben nicht an den Herd fesseln will. Auch die Aussagekraft der „Unwörter“ für gesamtgesellschaftliche Tendenzen wird immer diffuser. Das von Jörg Kachelmann erfundene „Opfer-Abo“, das Frauen in der Gesellschaft genössen, ist durch Kür zum „Unwort des Jahres“ erst bekannt geworden. Mag die Haltung, die es zum Ausdruck bringt, auch verbreitet sein, wäre dem Wort dann doch eher zugutezuhalten, dass es diese Haltung unverdeckt ausdrückt, statt sie zu verschleiern. Stattdessen wird das Wort auf die Giftliste gesetzt, als könnte man mit der Denunziation böser Wörter die Wirklichkeit verändern, deren Ausdruck sie sind und die sich womöglich eher verändern lässt, wenn man auf ihren Ausdruck horcht.

Magnus Klaue ist Literaturwissenschaftler

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