Wenn aus der Schweiz ein Roman über den Freitod kommt, lässt das ästhetisch wenig ergiebige, moralisch aufgeladene Diskussionen erwarten. Denn in der Schweiz können sich Interessierte leichter den eigenen Tod organisieren als fast überall sonst in Europa. Der assistierte Suizid ist legitim, aber es gibt auch die schäbigen Seiten des Geschäfts mit der Sterbehilfe. Ein Schweizer Autor, der sich mit dem Thema Suizid befasst, steht also in der Pflicht. Umso ungewöhnlicher, dass Lukas Bärfuss, der nach seinem fulminanten Debüt Hundert Tage in seinem neuen Roman Koala den Gründen eines scheinbar grundlosen Suizids nachforscht, auf Diskussionen über Sterbehilfe, über die moralische Legitimität des sogenannten Freitods und über die politischen und sozialen Dimensionen des Themas strikt verzichtet. Stattdessen wird die Suche nach den Motiven in seinem Buch zur Suche nach der Geschichte dieses „Koala“, wie der Bruder des Ich-Erzählers von seinen Freunden genannt wurde.
„Der Selbstmord“, heißt es an einer Stelle über den Tod des Bruders, „sprach für sich, er brauchte keine Stimme und er brauchte keinen Erzähler.“ Einer Stimme und eines Erzählers aber bedarf die in der äußeren Biografie nicht aufgehende innere Geschichte, die sich im Namen des Verstorbenen kristallisiert hat.
Die Reise zum Ursprung des Namens „Koala“ gerät bei Lukas Bärfuss zu einem imaginären Reise- und Abenteuerroman in unterschiedlichste Epochen und Kontinente. Ihr Ausgangspunkt ist die Beschäftigung mit einem anderen Selbstmörder, dessen Name im Gegensatz zu „Koala“ allen bekannt ist: „Man hatte mich in meine Heimatstadt geladen, damit ich einen Vortrag über einen deutschen Dichter halte, der zweihundert Jahre früher, an einem Tag im November, am Wannsee in Berlin eine Mulde gesucht und danach seiner Freundin Henriette Vogel ins Herz und schließlich sich selber eine Kugel in den Rachen geschossen hatte.“
Die wahre Bestimmung
An den novellistischen Sog von Heinrich von Kleists Novellen erinnert auch der schnörkellos klare, das Rätselhafte seines Gegenstands aber umso deutlicher ins Bewusstsein hebende Erzählduktus, dessen scheinbar unmoderne Einfachheit zunächst vermuten lässt, man habe es schlicht mit einem autobiografischen Lebens- und Erfahrungsbericht zu tun und nicht mit einem fiktionalen Roman. Dass das Buch den Leser bis zum Ende über die autobiografischen Anteile seines Stoffes im Unklaren lässt und doch auch, selbst in seinen fantastischen Passagen, eine autobiografische Erklärung nie ausdrücklich dementiert, trägt mit zum Eindruck bei.
Auf der Suche nach Antworten begegnet einem also Schweigen. Auf den in Archiven und Bibliotheken unternommenen Reisen des Erzählers, der „Koalas“ Suizid verstehen will, stößt er nicht nur in die Epoche der Antike und des Ursprungs abendländischer Philosophie vor, als Sokrates den Schierlingsbecher trank, sondern auch in die exotischen Gefilde von Naturvölkern aus der vorkolonialen Zeit. Der Koala fungierte für den jungen Bruder nämlich als eine Art namensgebendes Totemtier, die Verleihung des Totemnamens durch die Gemeinschaft der Freunde wird als Initiationsritus vorgestellt: „Mit seinem ersten Namen würde man nach ihm rufen, der zweite Name aber würde ihn rufen, und so, wie der erste Name die Tatsachen beschrieb, würde sein neuer Name das enthalten, was immer möglich sein würde, sein geheimes Wesen, seine wahre Bestimmung.“
Spätestens mit der Initiationsszene verschwimmen allerdings auch die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie des Erzählers, zwischen Erinnerung, Fiktion und Imagination, der sachliche Sprachgestus gleitet über ins Lyrische: „Jemand sprach ihn an. Er drehte seinen Kopf. Du gehörst nun zu uns. Und wer zu uns gehört, braucht einen Namen. Dein Name kommt von weit her. Aus einem anderen Land. Über die sieben Weltmeere ist er gereist, bis hierher, damit er dich finde. Trage ihm Sorge. Werde ihm gerecht.“ Der Spitz- oder Kosename verleiht in der profanen Wirklichkeit einem rituellen Moment Geltung, als wären alle Freundschaftsbande noch immer vom archaischen Gehalt des ersten Freundschaftsbundes durchdrungen.
So wie die Namensverleihung vom Spiel der Freunde in den Ritus umschlägt, changiert das Bild des Koalas bei Bärfuss zwischen Totem und Kuscheltier. Die an den Namensritus anschließende, fast die zweite Hälfte des Romans ausfüllende imaginäre Reise in vorzivilisatorische Welten, die die Suche nach den Motiven des Suizids gleichsam in eine zweite, aus ihr hinaus-, aber am Ende auch wieder in sie hineinführende Geschichte übergehen lässt, hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck.
Als ließe sich das Geschehen, die willentlich von ihm selbst vollzogene Auslöschung eines Individuums, letztlich gar nicht erklären ohne Rückgriff aufs Magische, auf die nie ganz überwundenen Atavismen inmitten des zeitgenössischen Lebens. Doch dies ist in Bärfuss’ Roman nicht das letzte, sondern sozusagen das vorletzte Wort. Auf die delirierende Fantasie, imaginärer Abenteuerroman inmitten der Recherche, folgt die Rückkehr in eine ernüchternde Wirklichkeit, in der der Bruder nur noch „abwesend“ ist – „er fehlte, er war nirgends zu sehen, keine Spur, kein Zeichen“.
Der letzte Satz des Buches markiert zugleich den Beginn des Romans: „Ich stieg in den Wagen, fuhr nach Hause, setzte mich an den Schreibtisch und machte mich an die Arbeit.“ Als wäre die lange imaginäre Reise, die scheinbar weg vom Gegenstand der Erkundung führte, nötig gewesen, damit diese überhaupt erst beginnen kann. Ob ihr Ergebnis das vorliegende Buch ist oder umgekehrt das Buch erst der Anfang der künftigen Suche, diese Entscheidung bleibt dem Leser überlassen.
Koala Lukas Bärfuss Wallstein Verlag 2014, 184 S., 19,90 €
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