Erinnerung stirbt ab

Medientagebuch Was keine Szene interessiert, überlebt nicht einmal im Nischenprogramm: Nach 36 Jahren hat der WDR die Radiosendung "Schellack Schätzchen" eingestellt

Die beliebteste Form der Erinnerung ist heute die Retrospektive. Sie exorziert das historische Gedächtnis, indem sie es beschwört. Mit dem Kinofilm The Artist etwa wird der Stummfilm wiedererweckt und dadurch sein Tod besiegelt. Statt hervorzukehren, was ihn der Gegenwart entrückt, wird er kommensurabel gemacht, indem seine Stille, seine expressive Gestik und seine einfache Erzählweise als Gegenbild zum entfremdeten Alltag angeboten werden. Das Publikum bejubelt den reanimierten Anachronismus als letzten Schrei, der Film gewinnt einen Preis nach dem anderen.

Die WDR-Radiosendung Schellack Schätzchen ist derweil verschwunden. Eine Sendung, in der man die deutsche Unterhaltungsmusik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Originaltonträgern vorgestellt hat. In der also Erinnerung wachgehalten wurde durch die Arbeit an der Wiederentdeckung einer Vergangenheit, deren Verbindung zum Heute nicht nur aufgrund der technischen Möglichkeiten brüchig ist. Die Schellackplatte war das Medium eines deutschen Schlagers – oft von emigrierten oder ermordeten jüdischen Unterhaltungskünstlern –, bevor die Barbarei der Nazis dieser Musik Geist und Witz austrieb. Schellack Schätzchen wurde jetzt nach 36 Jahren abgesetzt. Was keine Szene, sondern nur versprengte Einzelne interessiert, überlebt auch nicht im Nischenprogramm von WDR4.

Dabei wird es die Schallplatte auch ohne das Radio immer geben, weil jedes kulturelle Phänomen als Stellvertreter seiner selbst aufersteht. Aber Schallplatten werden nie mehr sein, was sie waren. Für ihre Verehrer halten Fachgeschäfte alte Abspielgeräte bereit, die Platten kosten ein Vielfaches der Digitalversion: Fetische sind teuer, ihr Wert steckt nicht im Gegenstand, sondern in dessen Symbolik.

Jede Platte ein Unikat

Während Vinyl in der Punk- und Independentszene noch hoch im Kurs steht, gilt seine Vorform, die Schellackplatte, als Spezialität skurriler Sammler, die alte Schnulzen lieben. Dabei verkörpert die Schellack den Geist der Schallplatte in Reinform. Weil ihr Speicherplatz gering ist – drei bis vier Minuten Spielzeit auf jeder Seite –, räumt sie dem einzelnen Werk, dessen Bedeutung von der Unterhaltungsindustrie herabgesetzt wurde, privilegierte Bedeutung ein.

Zwei, vielleicht vier Nummern passten auf jede Platte, wodurch sie zu Trägern besonderer Hörerfahrungen wurden. In Zeiten, in denen Hunderte Musikstücke auf einem Handy Platz finden, muss das als zurückgeblieben erscheinen. Doch Vinylplatten mit höherer ­Speicherkapazität retteten den Werkcharakter der Musik gegenüber ihrer seriellen Produktion. Die Kombination der Nummern, die für die Ästhetik der Aufnahme entscheidende Zäsur, die durch das Umdrehen der Seite erzeugt wird, die Gegensätze und Korrespondenzen beider Seiten machten aus ­jeder Platte ein Unikat. Eben deshalb, und nicht nur aus Gründen der Sehnsucht, werden Platten eher gesammelt als CDs.

Seit sie im Radio keinen Ort mehr haben, sind die Schellacks zum Handelsgut von Antiquariaten und Nostalgie­foren geworden. Damit sind auch die­jenigen, deren Musik auf ihnen aufgehoben ist und für die Popularität und den Anspruch keine Gegensätze waren, in die Kuriositätenabteilung der Kultur abgeschoben worden, in der überdauert, was erhalten bleiben soll, obwohl es nicht mehr interessiert. Das Ende von Schellack Schätzchen ist ein Verlust an Erinnerung.

Magnus Klaue hat seinen Lieblingschansonnier Georg Kreisler auf einer Schellack kennengelernt

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