Erinnerungen an ein weites Land

Fachwechsel Mit fast 80 Jahren hat Karl Heinz Bohrer das literarische Schreiben für sich entdeckt. In „Granatsplitter“ durchdringt er Weltgeschichte mit individueller Erfahrung

Je ärmlicher sich der universitäre Alltag gestaltet, desto stärker wächst die Sehnsucht nach dem Authentischen. Vor allem in den Geisteswissenschaften gewinnt die Hoffnung an Popularität, den sekundären Diskursen durch den Sprung in die schöpferische Tätigkeit zu entkommen. Kaum ein literaturwissenschaftliches Institut verzichtet auf die Zusammenarbeit mit Künstlern. Allein, der als Trans- oder Interdisziplinarität verkaufte Aktionismus vermag die herrschende Ödnis nur zu überspielen. Sensiblen Geistern, die den intellektuellen Karneval als Ersatzhandlung durchschauen, bleibt, sofern sie nicht ihren Beruf aufgeben wollen, nur der Weg in die innere Emigration.Während die einen ihr Dasein als Privatdozenten fristen, parken andere ihre geistige Existenz in Kleinverlagen oder lektorieren Hausarbeiten. Die es sich leisten können, wagen selbst den Sprung ins Schöpferische und schreiben einen Roman. Wem der Wechsel vom Denker zum Schöpfer gelingt, der kann der neidischen Bewunderung der Kollegen gewiss sein. Weil er tut, worüber die anderen nur reden, wird er bewundert.

Kein Bruch bei Bohrer

Weil seine Tätigkeit aber akademisch nicht verwertbar ist, wird er zugleich verachtet.Um zu zeigen, dass ihre Karriere als Wissenschaftler durch ihre Karriere als Schöpfer keinen Schaden nehmen soll, wählen schriftstellernde Akademiker oft ein Pseudonym. Thea Dorn, Verfasserin dürftiger Krimis, heißt eigentlich Christiane Scherer, ihr Berliner Kollege, der Sprachphilosoph Peter Bieri, schreibt seine Romane als Pascal Mercier. Auch die Adorno-Schülerin Silvia Bovenschen verfasst seit fünf Jahren nur Prosatexte. Auf ein Pseudonym verzichtet sie, wohl auch, weil ihre Entscheidung für die Literatur endgültig war.

Für den fast 80-jährigen Karl Heinz Bohrer, der mit seiner Erzählung Granatsplitter nun gleichfalls ins literarische Genre gewechselt ist, dürfte die Arbeit mit der neuen Form nicht nur deshalb keinen existenziellen Bruch bedeuten, weil er sich das Risiko leisten kann. Gewiss, Bohrer war von 1982 bis 1997 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Bochum, und er hat mit seinen Büchern über Die Ästhetik des Schreckens, über Plötzlichkeit sowie zur Theorie der Trauer wichtige Beiträge über den Zusammenhang zwischen ästhetischer Erfahrung und Zeit vorgelegt. Dennoch war er in seinem Selbstverständnis und auch im Habitus nie ein Akademiker. Als langjähriger Leiter des Literaturressorts der FAZ und Verfasser von Essays für die von ihm herausgegebene Zeitschrift Merkur war das Ästhetische für ihn stets sowohl Gegenstand wie Ausdrucksform des Schreibens. Überdies fühlt er sich Zeit seines Lebens einem Land verbunden, das den Unterschied zwischen Fantasie und Geist nie gekannt hat und in Granatsplitter eine wichtige Rolle spielt: England.

„Yes, I like you very much“

Die Erinnerung an die grüne Insel, wo Akademiker seit jeher ohne Angst vor Rufschädigung Kriminalromane und Politiker intelligente Autobiografien schreiben, umschließt Bohrers Erzählung, die keine Autobiografie ist, wie eine sanfte Utopie. Im ersten Kapitel wird ein Strandurlaub geschildert, den der Protagonist mit seiner Mutter und deren Freundin zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auf einer Nordseeinsel verbringt. Dort gewinnt er Harry, den Sohn einer englischen Familie, als Spielkameraden. Das fremde Kind besitzt, heißt es, „eine kleine Fahne mit einem sehr schönen Muster aus den Farben blau, rot und weiß, die zwei gekreuzte Kreuze trennten“. In dem deutschen Jungen erweckt sie eine eigenartige Sehnsucht, weil sie „etwas Unruhiges und gleichzeitig sehr Ruhiges“ ausstrahlt. Als Harry eines Tages auf die See hinausblickt, zeigt er in Richtung Westen und sagt zu seinem neuen Freund: „There is England.“ Obwohl der Junge die Sprache nicht versteht, begreift er den Sinn des Wortes: „Es klang so wie die Fahne aussah, eindrücklich.“

Am Ende des Buches, nach 1945 und schon als Schauspielschüler und Student der Philosophie, besucht der Protagonist London, wo er Laurence Olivier vorgestellt wird. Die einzige Geste, die er gegenüber dem berühmten Theaterstar hervorbringt, ist eine hilflose Handbewegung, gefolgt von den Worten „Yes, I like you very much.“ Er ist mit diesem banalen Satz jedoch zufrieden, weil jedes Mehr „schon ein Zuviel des Bekenntnisses gewesen“ wäre.

England symbolisiert für den Jungen in Bohrers Erzählung entgegen der Bedeutung des Namens nicht Enge, sondern Weite der Erfahrung und die unendliche Ferne möglichen Glücks. Damit steht es in greifbarem Gegensatz zu einem von ungestellten Fragen und verschwiegenen Antworten geprägten Deutschland, dessen Enge für den Jungen nur in wenigen Momenten überschritten wird. Etwa im selbstvergessenen Spiel, das aus gefundenen Granatsplittern funkelnde Kostbarkeiten und aus Soldaten kindliche Kameraden macht, oder während der katholischen Messe, bei der alle Gegenstände zu erstrahlen scheinen wie „die Erscheinung von etwas Außergewöhnlichem“.

„Tanztee“ oder „Heissa“

Ähnlich dem Katholizismus, der von den Nationalsozialisten wie von deren Gegnern als archaisches Relikt wahrgenommen wird, erfährt der Junge das Lernen lateinischer Vokabeln in der Schule und die dort erworbenen Kenntnisse über das griechische Altertum als Aufscheinen einer Schönheit, die der unverstandene, diffus bedrohliche Alltag nicht bereithält. Spuren davon haften auch an den Schlagern seiner Jugend sowie an anachronistischen Wörtern wie „Tanztee“ oder „Heissa“, an Karl-May-Büchern, den Melodien alter Operetten oder an Kitschfilmen. Der Abhub der Erscheinungswelt, der für den starren ideologiekritischen Blick nichts als klischeehafter Unrat einer zurückgebliebenen Epoche ist, wird zum Medium der Erinnerung an eine Wirklichkeit, die es nie gegeben hat und die dem Jungen doch wahrer erscheint als sein empirisches Dasein. Auf diese Weise gelingt es Bohrer, die Geschichte der Jahre zwischen 1939 und der frühen Nachkriegszeit als innere Biografie eines fiktiven Lebens zu erzählen, ohne sie zum Einzelschicksal zu verharmlosen. In der Verschränkung von Geschichte und Imagination ist sein Buch nicht zuletzt Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert verpflichtet.

Nichts wäre leichter, als Bohrer vorzuwerfen, er habe nur eine weitere deutsche Kriegsgeschichte geschrieben, in der die nationalsozialistischen Verbrechen aus der vermeintlich unschuldigen Perspektive eines deutschen Kindes zum Schicksal umgedeutet würden. Aber Bohrers Erzählperspektive ist kein apologetischer Trick, sondern ein ästhetischer Kunstgriff, der es möglich macht, Ereignisse, die vorher nur historische Fakten waren, in die unverlierbare Erfahrung eines Individuums zu übersetzen. Bohrer selbst beschreibt dieses Verfahren in einem Postskriptum, in dem er sich vom autobiografischen Schreiben abgrenzt, als fantasierende Erinnerung: „Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das, was sein Held selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren. Die Neugier des Lesers wird auch nicht durch eine biografische Identifizierung der übrigen Charaktere und Schauplätze befriedigt, sondern ausschließlich durch die Darstellung der Atmosphäre und der Gedanken einer vergangenen Zeit.“ Indem er die Imagination der Erinnerung nicht einfach gegenüberstellt, sondern zeigt, dass diese ohne jene nicht möglich ist, dass Geschichte, die nicht von individueller Erfahrung durchdrungen ist, zu bloßen Fakten zusammenschrumpft, macht Bohrer nicht nur Ernst mit einer Erkenntnis seiner eigenen theoretischen Arbeiten. Ihm gelingt auch ein Buch, das, indem es weniger als andere vom Nationalsozialismus erzählt, umso mehr über ihn aussagt: Nicht weil Churchill gegen Hitler kämpfte, sondern weil die Menschen, der Alltag, ja die Naturgeschichte des Landes selbst dort eine andere ist, wird England dem deutschen Jungen zum Vorschein besseren Lebens.

Magnus Klaue hat auf den Literaturseiten zuletzt die Tagebücher und Briefe des Widerstandskämpfers Boris Vildé rezensiert

Granatsplitter. Erzählung einer Jugend Karl Heinz Bohrer Carl Hanser 2012, 318 S., 19,90 €

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