Haus ohne Hüter

Psychologie Seit November gibt es in Berlin eine Psychoanalytische Hochschule. Sie war Sigmund Freuds Traum – als Patron eignet er sich aber kaum. Ein Bericht

1926 formulierte Sigmund Freud in seiner Schrift Die Frage der Laienanalyse den Wunschtraum einer Psychoanalytischen Hochschule. In deren Unterrichtsplan, so schrieb er, müsse die Tiefenpsychologie das „Hauptstück“ sein, darüber hinaus aber habe sie die Studenten in den Bereichen der Medizin und Psychologie, der Gesellschafts- und Kulturwissenschaft zu unterrichten. Freud nannte diesen Traum damals mit absichtsvoller Doppeldeutigkeit „phantastisch“: wundervoll, aber unrealisierbar.

Als die Psychoanalytikerin Christa Rohde-Dachser, die Direktorin der im vergangenen November eingeweihten International Psychoanalytic University (IPU) in Berlin-Moabit, der ersten Psychoanalytischen Hochschule in Deutschland, in ihrem Eröffnungsvortrag diese Phantasie ins Gedächtnis rief, vermied sie die Suggestion, dass nun eingelöst werde, was Freud für phantastisch hielt. Stattdessen erinnerte sie an die Hindernisse, die einer institutionellen Verankerung des Freud’schen Denkens hierzulande nach wie vor im Weg stehen: die Verbindung zwischen Psychoanalysefeindschaft und Antisemitismus, der Siegeszug von Neurologie und Verhaltenstherapie, aber auch die Interdisziplinarität der Psychoanalyse, die es schwierig mache, deren Fragestellungen in einem Institut zusammenzuführen. Der „phantastische“ Charakter einer Hochschule für Psychoanalyse ist insofern nicht nur den Verhältnissen, sondern dem Gegenstand selbst geschuldet.

Mehr Gestus als Theorie

Dass die Psychoanalyse eher ein Gestus des Denkens als eine kohärente Theorie ist, hat Freud zeit seines Lebens immer wieder betont. Seine Arbeiten zur Traumanalyse und Kulturtheorie, zur Religionsgeschichte und klinischen Psychologie hat er nicht als Räume ein und desselben Denkgebäudes angesehen, sondern als Fragmente eines work in progress, die zwar aufeinander bezogen sind, sich jedoch keinem Oberbegriff subsumieren lassen. Eine Hochschule, die diesem Anspruch gerecht werden und dennoch das psychoanalytische Denken lehren will, steht schon bei der Ausarbeitung der Institutsstruktur vor Problemen: Welche Kenntnisse gehören zum Basiswissen, und welche werden erst im Laufe weiterer Spezialisierung erworben? In welchem Verhältnis stehen psychoanalytische Theorie und therapeutische Praxis? Und wie lässt sich der Interdisziplinarität der Psychoanalyse Rechnung tragen, ohne sie zum Sammelbecken multipler „Methoden“ herabzusetzen?

Das Haus in der Moabiter Stromstraße, in dessen Räumen noch die Umzugskartons stehen, möchte in den kommenden Monaten darauf eine differenzierte Antwort geben. Einerseits bemüht man sich um eine breite theoretische Fundierung und hat mit der Direktorin Rohde-Dachser sowie der Psychoanalytikerin Lilli Gast zwei Kennerinnen der psychoanalytischen Kultur- und Gesellschaftstheorie berufen. Andererseits hat man sich das „praxisnahe Studieren“ auf die Fahnen geschrieben, möchte mit Medizinern und Pädagogen kooperieren und bietet mit den Masterstudiengängen „Jugendliche Delinquenz“ und „Frühe Hilfe“, in dem es um Beratung bei frühkindlichen Entwicklungsstörungen geht, gleich zwei berufsqualifizierende Ausbildungswege an.

Ob die Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Ausbildung gelingen wird, ist unklar. Es wird davon abhängen, wie viele und welche Lehrkräfte die IPU künftig anwerben kann, welche Gelder sie zur Verfügung hat und wie groß das studentische Interesse an einer Ausbildung ist, die nicht unbedingt eine steile Karriere verspricht. Zumindest die personelle Ausstattung der Hochschule ist, gemessen an der Personalpolitik anderer deutscher Universitäten, mit einem guten Dutzend Hochschullehrern und Dozenten schon jetzt beeindruckend. Freilich arbeiten die meisten von ihnen hauptberuflich nicht in Berlin und müssen regelmäßig pendeln – darunter Rohde-Dachser selbst, die auch in Frankfurt am Main an der Universität lehrt und für den Aufbau der IPU nicht nur ein beträchtliches ­Vermögen, sondern auch viel Fahrzeit investieren musste. In Anbetracht der überschaubaren Bewerberzahl – circa 80 Studenten werden im Startsemester aufgenommen – dürften die personalpolitischen Verhältnisse an der IPU jedoch einstweilen wirklich traumhaft sein.

Das größte Zukunftsproblem ist eher ein verwaltungstechnisches und ökonomisches: Die IPU steht nämlich unter privater Trägerschaft und muss sich dementsprechend auch über Studiengebühren finanzieren. Die aber sind gepfeffert: Für die praxisorientierten Studiengänge „Jugendliche Delinquenz“ und „Frühe Hilfen“ müssen die Aspiranten 2.000 Euro pro Semester aufbringen, für den integrativ angelegten Studiengang „Klinische Psychologie/Psychoanalyse“ sogar 4.000, im Teilzeitstudium immerhin ebenfalls 2.000 Euro. Dass dies, solange es kein sozial differenziertes Stipendiensystem gibt, einer ökonomischen Auslese gleichkommt, die dem universalen Anspruch der Psychoanalyse widerspricht, dürfte sich von selbst verstehen.

Zwang zur Praxisnähe

Rohde-Dachser, die gemeinsam mit dem Berliner FU-Professor Jürgen Körner die „Gesellschaft zur Förderung der universitären Psychoanalyse mbH“ gegründet hat, aus der die IPU hervorgegangen ist, hält die private Rechtsform der Hochschule keineswegs für ideal, weist aber darauf hin, dass die deutsche Hochschullandschaft für die dauerhafte Einrichtung einer Psychoanalytischen Universität kaum andere Möglichkeiten offen lässt. In vier bis fünf Jahren muss die IPU die Anerkennung durch den Wissenschaftsrat erwerben. Bis dahin sollen eine ambulante Therapiestation in den Räumen der Hochschule, aber auch Kooperationen mit Religionshistorikern, Film- und Kunstwissenschaftlern helfen, das praktische und theoretische Profil der Uni zu stärken.

Finanziell muss die IPU sich selbst tragen – mithilfe von Fundraising, Geldern der Privatwirtschaft, Gebühren, internationalen Forschungsprogrammen sowie projektgebundener staatlicher Förderung. Die „Praxisnähe“, mit der sie sich gegenüber staatlichen Universitäten zu profilieren versucht, ist also nicht nur Ergebnis einer eigenständigen Entscheidung, sondern zu einem guten Teil Resultat des Zwangs, durch praxisorientierte Projekte Gelder einwerben zu müssen.

Aus dem Zwang zur Praxisnähe kann freilich auch Gutes erwachsen. Nicht umsonst widmen sich die Studiengänge „Jugendliche Delinquenz“ und „Frühe Hilfen“ zwei gesellschaftlichen Bereichen, in denen in Deutschland oft Willkür und blinder Pragmatismus herrschen. Sowohl im jugendlichen Strafvollzug wie auf dem Gebiet kindlicher Frühförderung dominiert Alltagspsychologie gegenüber fachlicher Kompetenz und Vorurteil gegenüber Sachkenntnis. Trotzdem wird die IPU kaum darum herumkommen, ihr Verhältnis zu den Politikfeldern, in die sie durch solche Ausbildungsgänge eingreift, präziser zu bestimmen: Versteht man sich als eine Art psychologischer Dienstleister im Staatsauftrag, oder als Ort der Selbstreflexion, wo Grundlagenforschung und Kritik wichtiger sind als die Frage nach der gesellschaftspolitischen Nützlichkeit der vermittelten Fähigkeiten?

Kein Manko

Die Antwort auf diese Fragen dürfte auch Einfluss darauf haben, welche Bewerber man sich aussucht und welche Forschungstraditionen gepflegt werden. Jedenfalls wäre es ein Verlust, wenn es der Hochschule nicht gelänge, den häretischen Impuls, der an den mittlerweile deutschlandweit verwaisten Instituten für Sozialpsychologie und Sexualforschung oft noch bewahrt wurde, in das neue Haus hinüberzuretten.

Manche Pläne, mit denen die IPU sich trägt, deuten an, dass dies gelingen könnte. Etwa Rohde-Dachsers Vorhaben einer Erforschung dessen, was sie „Unbehagen an der Postmoderne“ nennt: die Untersuchung der Frage nämlich, inwiefern das Freudsche Vokabular, wie viele „postmoderne“ Psychologen unterstellen, tatsächlich veraltet ist, oder ob es nicht vielmehr die Grundlage abgeben könnte, um die psychosozialen Transformationsprozesse zu analysieren, die mit Begriffen wie „Patchwork-Identität“ und „Risikogesellschaft“ oft eher zugedeckt als erhellt werden. Insofern muss es kein Manko sein, dass Freud sich als väterlicher Hüter des Berliner Hauses nur bedingt eignet.

Wenn sein Name in Erinnerung riefe, dass die universitäre Vermittlung psychoanalytischer Erkenntnis vorerst weiterhin ein in doppeltem Sinn „phantastisches“ Projekt bleibt, wäre das nicht der schlechteste Ausgangpunkt für die anstehende Arbeit.

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