Zu Anfang war das Feuilleton nicht einfach eine Sparte des Tagesjournalismus, sondern Ausdrucksform einer Erfahrung der Moderne: der des urbanen Individuums, das, von überkommenen Bindungen losgelöst, offen für die flüchtigen Reize des Neuen war. Charles Baudelaire und Walter Benjamin haben diese Erfahrungsweise mit dem Typus des Flaneurs zusammengebracht. Haltlos im Strom der Großstadtmassen treibend, beansprucht der Flaneur mit der Anmaßung des Snobs doch die anachronistische Position des unnahbaren Beobachters. Dieser Haltung entspricht das im späten 19. Jahrhundert entstehende Feuilleton, das Benjamin und Baudelaire selber pflegten und das die Literatur über die kleine Form hinaus bereicherte.
„Durch Stadtfeuilleton und Physiologie erhielt das Straßenleben eine bis dahin unbekannte Wichtigkeit. Selbst im französischen Roman wird die Straße zum Hauptakteur. Der geschulte – phantasievolle – Blick des Romanciers vermochte aus Gang und Miene das Geheimnis des Passanten zu erschließen und in eine Geschichte zu verwandeln.“ Mit diesen Worten umreißt die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer in ihrer Studie Die City eine Konstellation, die sie im Schwinden begriffen sieht und die sie uns mit ihrer Beschreibung dessen, was „Straßenleben in der geplanten Stadt“ heute bedeutet, noch einmal in Erinnerung ruft.
Liberalität und Anonymität
Dass ihre Untersuchung mitunter „einen Zug von missmutiger Nostalgie“ erhält, nimmt sie dabei in Kauf. Erst der Mut zur melancholischen Betrachtung beschert ihrem Buch auch seinen ungewöhnlich reichen Ertrag. Wer die Wirklichkeit okay findet, erkennt sie nicht. Erst wer in ihr die Spuren unabgegoltener Vergangenheit entdeckt, kann ihre Physiognomie nachzeichnen. Aus einer Fülle von Alltagsbeobachtungen entwirft Schlaffer das Bild städtischen Lebens, das das urbane Versprechen von Liberalität und befreiender Anonymität preisgegeben hat.
Nicht mehr der schweifende Blick des atomisierten Einzelnen bestimmt den Alltag in der City, sondern das, sei es auch imaginäre, Kollektiv der Paare und Passanten, deren Sinnesorgane durch Headphones und Handy blockiert sind: „Obgleich der Anteil der Singles in der Bevölkerung, zumal in der Innenstadt, zunimmt, prägen Paare und Gruppen das Straßenbild. Diese sind miteinander beschäftigt, und falls einer von ihnen allein gelassen wird, stellt er sofort über das Mobiltelefon den Kontakt mit einem imaginären Begleiter her.“
Simulation von Unternehmertum
Die urbane Fähigkeit, die Nähe von Fremden und die Fremdheit der Nächsten in eine beglückende Erfahrung zu verwandeln, verkümmert, wo die zerstreute Aufmerksamkeit des Flaneurs von Pseudoaktivität gefesselt ist: „Das Prinzip der Organisation für Warenlieferungen, ‚just in time’, gilt auch für die Besucher der City. Sie geben unentwegt Signale über den Ort, an dem sie sich gerade befinden (…). Jeder Sitz- und Stehplatz in der Stadt, und nicht nur der U-Bahn darunter, wird als Station benützt – die Standardinformation von dort aus lautet stets: ‚ich bin jetzt gerade…’ Der Mensch behandelt sich selbst als eine Ware, die nicht zu lange lagern darf.“
Mit seinem Verhalten simuliert der Citybesucher allerdings nur das permanente Beschäftigtsein eines Unternehmertums, dem er nicht angehört. Die wirklichen Manager und Yuppies verhalten sich noch am ehesten urban und werden deshalb als „Schickeria“ beschimpft, während der zwischen Arbeit, Einkauf und Zuhause pendelnde Citymensch in den Stunden des Unterwegsseins geradezu zwanghaft Manager spielt: „Keine Zeit zu haben, ist neuester deutscher Stil“, schreibt Schlaffer. „Da die Existenz des Managers oder Unternehmers für die meisten Passanten mehr ein Lebenstraum und Lebensentwurf ist, verlockt der schöne Schein des Geschäfts (…) zur Nachahmung.“
Stau nach innen
Die City verfügt daher im Gegensatz zur modernen Großstadt, in der das Caféhaus als Ort von Diskussion und Lektüre „sichtbar gewordene Kritik“ und „der Besuch im Café an sich schon ein politischer Akt“ war, über keine politische Öffentlichkeit: „Der heutige Besucher einer Stadt weiß, wenn er dort seinen Imbiss einnimmt, längst, wie es um die Welt steht: Bereits am frühen Morgen haben ihm Radio, Fernsehen, Presse, Smartphone (…) die neuesten Tagesereignisse mitgeteilt.“
Statt den anonymen Fremden gegenüber ansprechbar zu sein, staut sich die Aufmerksamkeit des Citybesuchers gleichsam nach innen, findet dort aber nichts als „eine Stimme aus dem Off, die ihn in die eigenen Angelegenheiten zurückholt“. Weil die City kein Ort der Geselligkeit ist, in dem es sich leben, sondern ein toter Raum, der sich nur durchqueren lässt, spricht Schlaffer statt von Bewohnern von „Besuchern“ der City. Die City lebt nicht, sondern muss städteplanerisch und kulturindustriell belebt werden – ein Phänomen, das Schlaffer, anders als der Anglizismus nahelegt, vor allem an deutschen Großstädten beobachtet, die den Kosmopolitismus von Metropolen wie New York und London imitierten.
Hannelore Schlaffers Buch entwirft keine Großtheorie der Urbanität. Stattdessen bietet es, ohne je ins Beliebige abzugleiten, prägnante und illusionslose Beobachtungen alltäglicher Phänomene. Über den Verfall der urbanen Genuss- und Geruchskultur, die provinzielle neue Raucherfeindlichkeit, die städtische Neutralisierung der Jahres- und Tageszeiten durch Heizstrahler und „Lange Nächte“ sowie über die Invasion der sportiven Wasserflaschentrinker in den öffentlichen Raum hat man selten so erfrischend Kluges und Böses gelesen wie in diesem Buch.
Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt
Hannelore Schlaffer Zu Klampen 2013, 170 S., 18 €
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