Seit die Geisteswissenschaften die Populärkultur entdeckt haben, ist auch das Kochen zur philosophischen Disziplin geworden. Manchmal wird dabei sogar wirklich Pikantes serviert.
Die wohl bekannteste kulturphilosophische Auseinandersetzung mit der profanen Tätigkeit des Essens stammt von Georg Simmel. Dieser beschrieb in seiner 1910 veröffentlichten Soziologie der Mahlzeit die gemeinsame Nahrungsaufnahme als eine Handlung, bei der sich das „Egoistische“ der Menschen zugleich als ihr „Gemeinsamstes“ darstelle: „Personen, die keinerlei spezielles Interesse teilen, können sich bei dem gemeinsamen Mahle finden – in dieser Möglichkeit, angeknüpft an die Primitivität und deshalb Durchgängigkeit des stofflichen Interesses, liegt die unermeßliche soziologische Bedeutung der Mahlzeit.“
Coffee to go
In der gemeinsamen Mahlzeit, so Simmel, läutere sich das primitive Interesse am Selbsterhalt, das die Menschen mit den Tieren verbinde, zu einem ästhetisch wertvollen, zivilisatorischen Akt, weshalb der Sinn für Geschmacksnuancen, für Tischsitten und Konversationsregeln kein überflüssiges Relikt einer aristokratischen Vergangenheit sei, sondern den Sinn der Mahlzeit überhaupt ausmache.
So wie Simmel würde heute wohl niemand mehr über das Essen schreiben. Zu sehr merkt man seiner Diktion die großbürgerliche Exaltiertheit des Gelehrten an, der sich mit distanziertem Interesse einem Thema widmet, das gewöhnlich für niveaulos befunden wird. Heute dagegen, da Fast Food und „Coffee to go“ zum Ernährungsalltag fast aller Gesellschaftsschichten gehören, wirkt ein solcher Gestus antiquiert.
Essen ist für die meisten Menschen nichts mehr, worüber es sich lange zu reflektieren und zu spekulieren lohnt, sondern ein leider notwendiges Bedürfnis, das möglichst ohne großen Zeitverlust zwischen Zweitjob und Dating befriedigt werden muss. Der Trend der TV-Kochsendungen, in denen das häusliche Kochen als beinharter Leistungskampf in Szene gesetzt wird, passt zu diesem neuen Verhältnis zum Essen ebenso wie Veganismus, „Light“-Nahrung und ähnliche unappetitliche Modemasochismen, die alle darauf hinauslaufen, dem Essen samt seiner Zubereitung jede Spur von Luxus, Genuss und Zweckfreiheit zu nehmen. Statt dessen hat alles möglichst schnell, praktisch, mager und gesund herzugehen: Wer es sich beim Essen noch wahrhaft schmecken lässt, gilt wahlweise als Schöngeist oder Schmarotzer.
Glücklicherweise hat die allgegenwärtige Kulturindustrie, die für diesen Verfall des Essens mitverantwortlich ist, auch gegenläufige Trends hervorgebracht. So beschäftigen sich die Geisteswissenschaften, seit sie ihr Profil zukunftsgerecht zu modernisieren versuchen, so unverkrampft wie selten mit Kochtopf und Herd. Kaum eine überregionale Tageszeitung, deren Feuilleton keinen diplomierten Kochphilosophen beschäftigen würde, kaum ein seriöser Verlag, der nicht den Kochbuchverlagen tiefsinnige Konkurrenz zu machen versuchte.
Zu den bislang interessantesten Ergebnissen dieses Wettbewerbs zwischen Hermeneutikern und Hausmännern gehört der Band Essen als ob nicht“, den der italienische Publizist Daniele Dell’Agli nun bei Suhrkamp herausgegeben hat. Er versammelt fünf essayistische Beiträge unterschiedlicher „Gastrosophen“, die sich dem Gegenstand mentalitätsgeschichtlich, sprachgeschichtlich, ideologiekritisch und psychoanalytisch nähren. Dass dabei stets der Bezug zum konkreten Gegenstand gewahrt bleibt, der bei diesem Sujet nie aus dem Blick geraten darf, ist das größte Verdienst des Bandes.
So entwirft der Honneth-Schüler Harald Lemke, der bereits zahlreiche Studien zur Geschichte und Ethik der Nahrungsaufnahme veröffentlicht hat, eine „Genealogie des gastrosophischen Hedonismus“, in der er der Frage nachgeht, wie der moralphilosophische Begriff des Guten in den kreatürlichen Lusterfahrungen des Magens fundiert ist.
Linkes und rechtes Essen
Dass seine weit ausgreifende Skizze, die den Zusammenhang von Ethos und Sinnlichkeit von den Epikureern über Rousseau bis zum modernen Verbraucherschutz umreißt, das neuzeitliche Ideal der „grünen Küche“ allzu positiv bewertet und nicht auf seine ideologischen Gehalte hin befragt, schmälert das Verdienst der Studie kaum. Wer sich für solche Zusammenhänge interessiert, kann statt dessen die Essays von Dell’Agli und Martin Reuter lesen, die sich mit Sarkasmus und Kenntnisreichtum der deutschen Küche als gastronomischer Ideologiefabrik widmen.
Während Dell’Agli vom Frühstück bis zum Dessert jene „Abneigung gegen alles Raffinierte“ nachzeichnet, die schon Nietzsche als genuin deutsche Geschmacksneigung zu verabscheuen gelernt hat, geht der Kommunikationstheoretiker Reuter den verschiedenen Essstilen nach, die die postmoderne deutsche Alltagskultur prägen – vom Imbiss über die „Erlebnisgastronomie“ bis hin zu „linken“ und „rechten“ Formen der Nahrungsaufnahme.
Appetit verderben
Der Psychoanalytiker Claus-Dieter Rath und der mexikanische Dichter Octavio Paz heben dagegen besonders das erotische und sexuelle Moment des Essens hervor, das als Akt der Einverleibung aus eigener Dynamik heraus stets zur Maßlosigkeit tendiert und dessen destruktiven Momente in jahrhundertelanger Arbeit zivilisiert werden mußten.
Eher enttäuschend fällt allein der Beitrag des Kochs und FAZ-Gastronomiekritikers Jürgen Dollase aus, der sich von seinem Vorhaben, den Stellenwert der „Theoriebildung“ in der Kochkunst zu untersuchen, leider dazu verleiten läßt, nach Art der funktionalistischen Soziologie „Stufentheorien“ zu entwerfen, Regelwerke zu erstellen und Graphiken zu zeichnen, die dem Leser den Appetit auf den Gegenstand schon auf den ersten Seiten verderben.
Insgesamt aber merkt man allen Autoren jenes sinnliche Vergnügen an, ohne das sich übers Essen so wenig schreiben lässt wie über Literatur ohne Lust an der Sprache. Simmels gastrosoziologische Versuche haben mit diesen Essays eine würdige Nachfolge gefunden.
Essen als ob nicht. Gastrosophische Modelle Hg. v. Daniele DellAglio. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009. 278 S., 12
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