Mittendrin aufhören

Lebenskunst Édouard Levé ist es gelungen, eine absolut moderne Autobiografie zu schreiben. Der Preis ist hoch
Ausgabe 46/2013
Foto: David McNew/ AFP/ Getty Images
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"Wenn ich an Sackgassen vorbeigehe, schaue ich prüfend hinein.“ In Levés Protokollsätzen stecken Tausende unerzählte, vielleicht unerzählbare Geschichten

Ein Grundimpuls des autobiografischen Schreibens ist das Bedürfnis nach Zusammenführung. Dem Knäuel miteinander verbundener Lebenswege, die eine Biografie ausmachen, soll die verborgene Einheit abgetrotzt werden. Die literarische Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass sich dieser Anspruch als uneinlösbar erweist. In Marcel Prousts Recherche ist der Unterschied zwischen Gedächtnis und Sehnsucht aufgehoben, Autobiografie und Roman verwischen sich. Und die monologisierenden Menschenstummel Samuel Becketts versuchen so unermüdlich wie erfolglos, sich eine entschwundene Vergangenheit zu erfinden, zu erinnern, zu erzählen.

Nach dem Ende der Moderne scheint die Autobiografie als literarische Form ausgedient zu haben, sei es, weil den Menschen ihr Leben nicht mitteilenswert erscheint, sei es, weil sie die Fähigkeit zur Zusammenschau nicht aufbringen, die die Form verlangt. Dass es dennoch gelingen kann, ohne die Erfahrung der Krise autobiografischen Schreibens zu leugnen, beweist der französische Fotograf und Schriftsteller Édouard Levé in seinem atem- und absatzlos über 110 Seiten hinjagenden Prosatext Autoportrait, der 2005, zwei Jahre vor Levés Selbstmord, erschien und nun bei Matthes & Seitz in hervorragender Übersetzung von Claudia Hamm auf Deutsch erschienen ist.

Unausdenkbare Fülle

Der Anfang evoziert die Tradition autobiografischen Schreibens, um sogleich in unverbundene Selbstbeobachtungen zu zersplittern: „Als Jugendlicher glaubte ich, eine ‚Bedienungsanleitung Leben’ könnte mir beim Leben helfen und eine ‚Bedienungsanleitung Selbstmord’ beim Sterben. Ich habe drei Jahre und drei Monate im Ausland verbracht. Ich schaue lieber nach links. Einer meiner Freunde befriedigt sich mit Seitensprüngen. Das Ende einer Reise hinterlässt bei mir denselben traurigen Nachgeschmack wie das Ende eines Romans. Was mir nicht gefällt, vergesse ich. Vielleicht habe ich schon einmal mit einem Mörder gesprochen, ohne es zu wissen. Wenn ich an Sackgassen vorbeigehe, schaue ich prüfend hinein.“ Und so geht es weiter, der so akribische wie gehetzte Selbstrapport eines Einzelnen, der, weil ihm sein Leben in Einzelheiten zu zerfallen droht, das Vergessen des Gelebten mehr fürchtet als das Ende des Lebens.

Das Leben, Gebrauchsanweisung ist der Titel eines Buches von Georges Perec, das die Form der Autobiografie ironisch unterläuft. Hierin nimmt Autoportrait seinen Ausgang, doch ist Levés Buch bestimmt durch den vom Verrinnen der Zeit diktierten Zwang zur Addition. Levé schreibt mit dem Gestus dessen, der sich den epischen Atem nicht leisten kann, weil ihm nur wenig Zeit bleibt, um alles, was Bedeutung hat, zusammenzuraffen. Deshalb bleibt scheinbar Wichtiges unerwähnt, während Unscheinbares akribisch vermerkt wird: „Ich ziehe nicht gern die Aufmerksamkeit auf mich. Ich reiße nicht das Wort an mich. Ich seufze innerlich, wenn jemand einen Witz zu erzählen beginnt. Ich käme nicht auf die Idee, ins Kino zu gehen, um mir eine Komödie anzuschauen. Ich sehe keine Action-Filme. Ich schaue keine Western.“

Immer wieder kristallisieren sich aus dem Staccato Themenkomplexe heraus, die, kaum entwickelt, fallen gelassen werden. Manche der Selbstaussagen wirken wie Antworten auf Fragen der Psychotests in Illustrierten, manche wie Splitter Proust‘scher Kindheitserinnerungen. In Levés Protokollsätzen stecken Tausende unerzählte, vielleicht unerzählbare Geschichten. Von der Macht der verrinnenden Tage bedroht, verweist das Buch auf die unausdenkbare Fülle eines jeden Lebens: „Ich habe 14.370 Tage gelebt. Ich habe 384.875 Stunden gelebt. Ich habe 20.640.000 Minuten gelebt. Ich bin 1,86 Meter groß. Mein Auge hat sich nicht sattgesehen, und mein Ohr hat sich nicht sattgehört.“

Weil die Erfüllung ausbleibt, muss die Lebensbeschreibung, statt ein Ende zu finden, abbrechen: „Ich möchte gern vollständige Listen erstellen, aber mittendrin höre ich auf.“ Das hat Autoportrait mit dem Leben gemeinsam.

Autoportrait
Édouard Levé Claudia Hamm (Übers.). Matthes & Seitz, 2013, 112 S., 17,80 €

Magnus Klaue ist Germanist

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