Der Kriminalroman ist ein Produkt des bürgerlichen Zeitalters und zeugt davon in doppelter Hinsicht. Er spiegelt das Vertrauen ins bürgerliche Recht, in die praktische Alltagsvernunft und in die Ordnung der Kausalität wider, deren Unhintergehbarkeit sich gerade in Situationen erweist, in denen sie scheinbar aufgehoben ist. Und er erzählt von der Bedrohung jenes Vertrauens, von den Grenzen der Vernunft und davon, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer in eins fallen.
Weil sein Gegenstand die Widersprüchlichkeit bürgerlicher Rationalität ist, verbindet den Kriminalroman ebenso viel mit der Aufklärung wie mit der Romantik: Der Pitaval, die im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts entstandene Sammlung historischer Strafrechtsfälle, die Friedrich Schi
die Friedrich Schiller zu seiner Kriminalnovelle Der Verbrecher aus verlorener Ehre anregte, wollte dem Verbrechen seine Tiefe und seinen Nimbus nehmen und es als der Vernunft zugänglich erweisen.Die Kriminalerzählungen der Romantik, am prominentesten vielleicht E. T. A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi, exponierten dagegen den Widerspruch zwischen der Ratio und dem sich der Vernunft entziehenden Kern des Geschehens. Der Täter ist ein Juwelier, der sich von seinen Schmuckstücken nicht trennen kann, er holt sie sich grausam zurück und genießt ihre Schönheit alleine; der Mord als asoziale Tat eines Künstlers.Ratio, Ästhetik und MoralDas Genre der Kriminalgeschichte, wie es sich seit dem späten 19. Jahrhundert herausgebildet hat, entfaltet das widersprüchliche Verhältnis von Aufklärung und Romantik in immer neuer Weise. Die großen Privatdetektive aus dem Golden Age des britischen Detektivromans, Sherlock Holmes, Hercule Poirot, Lord Peter Wimsey, haben mit Edgar Allan Poes Auguste Dupin einen spätromantischen Dandy als Ahnen, der das Spiel der Ratio als ästhetisches Experiment jenseits bürgerlicher Moral begriff.Der Polizeikrimi der sechziger und siebziger Jahre, dessen Ursprünge bis zu Émile Gaboriaus um 1860 ermittelnde Polizeibeamten Monsieur Lecoq zurückgehen, beschrieb die Alltagsarbeit von Beamten, denen die Verbrechensermittlung im Zuge bürgerlicher Arbeitsteilung zum Brotberuf geworden war. In neueren Profiler-Krimis verschmilzt das Vertrauen in die Effektivität wissenschaftlicher Erkenntnis mit der Faszination am Irrationalen auf manchmal unerquickliche Weise. Kriminologie, Pathologie und massentauglich aufpolierte Psychologie werden in ihnen zu einem neuen Glauben erhoben.Arthur Conan DoyleDer französische Soziologe Luc Boltanski, bekannt für seine Studie Soziologie der Abtreibung, nähert sich in seinem neuen Buch Rätsel und Komplotte dem antagonistischen Verhältnis zwischen Fantastik und Ratio im Kriminalroman von der Gegenwart her und deutet die Geschichte der Gattung vor dem Hintergrund eines nationalen Gegensatzes: Er unterscheidet zwischen einer von Liberalismus und Individualismus geprägten britischen und einer republikanischen französischen Genretradition, für die jeweils Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes und Georges Simenons Kommissar Maigret stehen.Als Umschlagpunkt zwischen Rationalität und Irrationalität macht Boltanski die, wie er meint, das Genre prägende Idee des Komplotts aus. In der Überzeugung des Ermittlers wie des Lesers, dass in der epischen Realität nichts ist, wie es scheint, dass hinter der Welt der Erscheinungen eine andere, erst zu rekonstruierende liege, artikulieren sich demnach Erkenntnisstreben und Wahn zugleich.Daher begreift Boltanski den Kriminalroman, auch, wo er Politisches nicht zum Thema macht, als politische und sozialdiagnostische Erzählform: „Die Figur des Komplotts“, so Boltanski, „richtet sich auf Verdachtsmomente in Bezug auf die Machtausübung. Wo befindet sich die Macht wirklich, und wer hat sie in Wahrheit inne?“Die Figuren des „Londoner Detektivs“ und des „Pariser Polizisten“, in denen Boltanski die britische und französische Genrevariante zusammenfasst, geben ihm zufolge zwei verschiedene Antworten auf die Frage, wer befähigt sei, hinter die Fassade der Macht zu schauen. Die abweichenden Antworten darauf deutet er als Symptom des staatsfernen, von Liberalismus und Spätfeudalismus geprägten britischen und des republikanischen französischen Verständnisses von Souveränität.Der Detektiv und die SubalternenDer britische Detektiv ist ein „bindungsloser“ Exzentriker, der nicht die staatliche Souveränität exekutiert, sondern einzelne Individuen gegen das Verbrechen, aber auch gegen den Staat zu schützen sucht. Er umgibt sich mit Gehilfen, Kammerdienern, Hausmädchen und anderen Subalternen, die Boltanski „Elitebedienstete“ nennt; an diesem im britischen Krimi vorausgesetzten „Unterordnungsverhältnis“ zeige sich, dass die Verteidigung des Individuums gegen Staat und Verbrechen im Namen eines spätfeudalen Aristokratismus geschieht. Zu den „Elitebediensteten“ rechnet Boltanski auch den Typus des Kriminalbeamten: „Als etwas beschränkte Persönlichkeit neigt er dazu, das Gesetz wortgetreu anzuwenden, weil dessen Geist ihm verschlossen bleibt. Trotzdem ist er immer ehrbar, das heißt aus einem Guss. Bei ihm gibt es keine Falschheit.“So wird Boltanski zufolge der Kriminalbeamte im britischen Detektivroman zum Diener des Staates und des Detektivs zugleich, der zwar mit ihm konkurriert, ihn aber auch als exekutive Schützenhilfe bei eigenen Privataktionen benötigt. Ganz anders, so Boltanski, sei es im französischen Genremodell, das er anhand der Romane von Gaboriau und Simenon entwickelt: Dessen Bewegungsgesetz sei nicht die Verteidigung des atomisierten Einzelnen gegen andere Einzelne, Staat oder Bande, sondern die „Gegensätzlichkeit von Gesellschaft und Verwaltung“.Der französische Kommissar ist, wie Boltanski an Maigret erläutert, „gespalten“, weil er nur der staatlichen Ordnung zur Loyalität verpflichtet ist und den verschiedenen Milieus „mit ihren Normen und Partikularinteressen“, in denen er seine Ermittlungen führt, „äußerlich gegenübersteht“. Um der Souveränität zum Recht zu verhelfen, muss er sich aber auf diese Milieus zugleich einlassen und zum mikrosoziologischen Beobachter werden. Das bringt ihn wiederum in Konflikt mit der Instanz, in deren Namen er agiert.KolportageDie tendenziell paranoide Logik der Spurensuche, die hinter allen Erscheinungen Komplotte wittert, wird in den beiden Genrevarianten, wenn man Boltanski folgt, durch den Widerspruch zwischen Individuum und Staat, individueller Moral und abstrakter Norm, gewissermaßen noch im Zaum gehalten. Dem zeitgenössischen Krimi attestiert er dagegen pauschal, ausgehend von der Gattung des Spionagethrillers, eine Verselbstständigung der Komplottsuche, in der die Logik nicht mehr einem Ziel dient, sondern allein auf ihr eigenes Gesetz bezogen ist.Die das letzte Drittel des Bandes ausfüllenden erkenntniskritischen Überlegungen, anhand derer Boltanski den Wahrheitsgehalt solcher Paranoia in einer Gesellschaft aufzuweisen sucht, in der jeder Handelnde zwangsläufig Vollzugsbeamter des Allgemeinen ist, gehören zu den schwächeren Passagen der Studie, weil sie sich vom literarischen Material weit entfernen.Wo Boltanski sich aber der mikroskopischen Deutung einzelner Texte widmet, vermag er auch scheinbarer Kolportage ihren diagnostischen Gehalt abzugewinnen. Genießen kann das freilich nur, wer darüber hinwegsieht, wie stark Boltanski die Geschichte der Gattung im Dienst seiner These verzeichnet: Kein Wort verliert er darüber, dass mit der ebenfalls im späten 19. Jahrhundert entstandenen Tradition des police procedual Autoren wie Freeman Wills Crofts und Henry Wade in Großbritannien eine Form des Polizeiromans schufen, die der französischen Variante sehr ähnlich war; dass mit den Hard-Boiled-Romanen von Dashiell Hammett und Raymond Chandler in den USA eine Form des Krimis entstand, die in der Dichotomie von britischer und französischer Tradition keinen Platz findet; dass mit dem auch durch theoretische Schriften hervorgetretenen Autorenduo Pierre Boileau und Thomas Narcejac in Frankreich eine düstere, fatalistische Form des Krimis bis heute populär ist, die der Maigret-Tradition schroff widerspricht. Ob Boltanskis Nationalgeschichte der Gattung angesichts solcher Lücken wirklich Überzeugungskraft hat, kann zumindest bezweifelt werden.
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