Anders als der Nationalsozialismus hatte der italienische Faschismus ein ausgeprägtes Faible für die ästhetische Moderne. Der Futurismus, zu dessen Experimenten es im künstlerisch epigonalen Technikkult eines Ernst Jünger keine Entsprechung gibt, wäre ohne den Mussolini-Faschismus kaum denkbar gewesen, doch seine ästhetische Formsprache weist über die Ideologie hinaus, der sie entsprang. Nicht nur ein Antisemit wie Ezra Pound, auch jüdische Emigranten aus dem Umfeld der Konservativen Revolution wie Rudolf Borchardt glaubten dem italienischen Faschismus etwas abgewinnen zu können. Einige, neben Borchardt beispielsweise die sonst eher dem Anarchismus zuneigende Else Lasker-Schüler, betrachteten ihn zeitweise gar als rettende Alternative zum nationalsozialistischen Volksstaat. Was heute naiv anmutet, hatte reale Gründe.
In Italien gab es unter Benito Mussolini, anders als in NS-Deutschland, keinen von der Mehrheit der Bevölkerung gestützten, systematisch durchgesetzten Antisemitismus, weshalb das faschistische Italien zu einem wichtigen Exilland deutscher Juden wurde. Und obwohl der Technikfetischismus der Futuristen mit dem nationalsozialistischen Verständnis von Moderne vereinbar war, hofierte Mussolini auch Künstler, die in NS-Deutschland als „entartet“ gegolten hätten.
Heidnische Lobgesänge
Einer der populärsten Dichterfreunde Mussolinis war Gabriele D’Annunzio, dessen Prosa und Lyrik zum Typischsten der Literatur des Fin de Siècle gehört. Nicht erst in seinem von patriotischer Propaganda strotzenden Spätwerk der dreißiger Jahre ist die Affinität zum Faschismus evident. Schon seine 1882 erschienenen Jugendgedichte Canto novo pflegen einen Lebenskult, der an präfaschistische Vertreter wie Oswald Spengler und Ludwig Klages erinnert. Doch von Beginn an stellte die Bedeutung, die D’Annunzio der ästhetischen Form einräumte, die Ideologie seiner Werke auch infrage. So sind seine um 1900 erschienenen Romane L’innocente (Der Unschuldige), Il piacere (Die Lust) und Il fuoco (Das Feuer), die obsessiv um den Zusammenhang zwischen Dandytum und Frauenverachtung kreisen, nicht nur Darstellungen, sondern auch Analysen jenes männlichen Sozialcharakters, der im militärischen Elitedenken des italienischen Faschismus zu sich selbst kommen sollte. Im Omnipotenzwahn der Protagonisten wird der Allmachtsanspruch des Ästhetizismus reflektiert, die sinnliche Welt dem eigenen Formgesetz zu unterwerfen.
Das Scheitern an diesem Anspruch, von dem die Romane nur erzählen, wird in D’Annunzios 1903 erschienenem Gedichtzyklus Alcyone in der Form ausgetragen. Wohl weil es gigantomanisch erscheint, ist das Werk erst jetzt in Gänze ins Deutsche übersetzt worden. Der Zyklus ist der dritte Teil einer ursprünglich auf sieben Bände angelegten Sammlung heidnischer Lobgesänge, von denen schließlich nur die vier Lobgesänge des Himmels, des Meeres, der Erde und der Helden übrig blieben. Der dritte Band Alcyone ist der „Erde“ gewidmet, womit nichts anderes als die italienische Kulturlandschaft gemeint ist.
Beschädigte Ideologie
Strukturiert ist der Zyklus durch vier „Dithyramben“, denen jeweils ein Einzelgedicht als Motto vorausgeht. Am Anfang und am Ende stehen je ein eigenständiges Langgedicht, „Die Waffenruhe“ und „Der Abschied“. So entsteht eine bewusst anachronistische Großform, die im Symbolismus, in dessen Umfeld D’Annunzio sich bewegte und der von streng durchgeformten, aber eher knappen Werken dominiert wurde, anmaßend anmuten musste.
Obwohl die Gliederung in kapitelähnliche Abschnitte der Sammlung den Anschein eines Versepos gibt, ist das erzählerische Moment stark zurückgenommen. Das Einleitungsgedicht spricht antikisierend und eher allegorisch als historisch von einem seine temporäre Ruhe genießenden Kämpfer, der die Personifikation des Dichters ist: „Herr, gönne ihm, dass er nun locker lasse / die Sehne; dass des Windes wilde Weise / gierig nach seinen trunknen Geistern fasse (…) / Der nackte Sommer lodert ihm am Himmel.“ Das Szenario vom ruhenden Kampf dient jedoch vor allem der Entfaltung unterschiedlicher Landschaftsimpressionen dieses Subjekts. Diese gewinnen im Hauptteil immer stärker auch sprachliche Autonomie, überschreiten die nur angedeutete historisch-römische Szenerie und überschwemmen am Ende gleichsam das Subjekt selbst: ausladende Beschreibungen der toskanischen Küste, der Pinienwälder, des Meeres, der Sterne, unterbrochen von Jagdimpressionen. Zwar legt die monumentalistische Konstruktion des Zyklus nahe, dass es um die Allegorisierung einer Art patriotischer Landnahme geht, bei der der Held sich als sinnlich verwachsen mit der Kulturlandschaft erfährt. Doch die am Beginn gepriesene „Trunkenheit“, die es dem Subjekt ermöglicht, „lockerzulassen“, und das Moment der Selbstentgrenzung in der lyrischen Rede exponiert, gewinnt diesem ideologischen Aspekt gegenüber an Eigengewicht. Nicht nur Wind und Wasser werden zu Metaphern dieser Selbstentgrenzung, sondern auch die Spurensuche des Jägers, die eigentlich im Dienst der Naturbeherrschung steht, das Subjekt hier aber vom eigenen Zweck fort auf Abwege führt: „Ich sah ein Weiß; es war der Dämmrung Flor, / so dass ich aufsah und die Spur verlor.“
So vollziehen die immer wieder in freie Rhythmen übergehenden und doch die metrische Bindung nie ganz hinter sich lassenden Verse, deren an Rainer Maria Rilke erinnernden, fließenden und geschmeidigen Ton die Übersetzung hervorragend trifft, eine Bewegung der glücklichen Abschweifung, die den Monumentalismus und Heroismus der Gesamtkonstruktion unterläuft. Auch traditionell zur Ästhetik des Hässlichen gehörenden Naturphänomenen wie Sumpf und Morast wird als Bildern dieser Selbstentgrenzung abgründige Schönheit zugesprochen. Während Selbstentgrenzung und Todeskult in D’Annunzios Spätwerk in einem faschistoiden Heroismus verschmelzen, bringen sie hier das Subjekt von seinem geraden Wege ab und figurieren als Versprechen von Glück und Seligkeit jenseits der gewalttätigen Wirklichkeit. Die anmaßende Großform, die in den späten Werken nur mehr Ideologie ist, wird so in Alcyone bis in die Grundfesten beschädigt. In diesem Scheitern liegt sein Gelingen.
Alcyone Gabriele D’Annunzio Ernst-Jürgen Dreyer, Geraldine Gabor, Hans Krieger (Übers.), Elfenbein-Verlag 2013, 494 S., 48 € Magnus Klaue ist Literaturwissenschaftler
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