Soziale Netzwerke im Internet wie StudiVZ oder SchülerVZ dienen nicht nur dem Austausch über Haus- und Examensarbeiten. Das dürfte dank der massenwirksamen Berichterstattung über „Pornoskandale“ mit ihren diversen juristischen Nachspielen mittlerweile selbst der Bild-Leser wissen, der sich mit seiner Tagesration nackter Haut zufrieden gibt. Glaubt man den Geschichten, die von Stern über Focus bis zur seriösen bürgerlichen Presse seit etwa einem Jahr verbreitet werden, herrscht in diesen Foren blanke Anarchie: Auch Familienministerin Ursula von der Leyen setzt bei ihrer aktuellen öffentlichkeitswirksamen Kampagne gegen Kinderpornografie populistisch auf das Internet als Schuldigen. Dort, wo Minderjährige sich die besten Pornoseiten empfehlen oder einander Tipps für den täglichen Drogenkonsum geben, Schülerinnen versuchen, sich mit Dessous- und Nacktbildern gegenseitig auszustechen. Eltern, die ihren Söhnen und Töchtern erlauben, im eigenen Zimmer bei verschlossener Tür die Weiten des Netzes zu erkunden, sind demnach selbst schuld, wenn diese sich hoffnungslos darin verstricken.
Zu den exemplarischen Vorkämpfern für kindgerechte Webhygiene gehört Beate Krafft-Schöning, Journalistin und Begründerin der Initiative Net Kids, die sich für die Stärkung der „Medienkompetenz“ von Kindern und Eltern einsetzt. Was unter der harmlos klingenden Formel zu verstehen ist, lässt sich in ihrem im Vistas Verlag erschienenen Buch Nur ein Mausklick bis zum Grauen entnehmen, in dem Beweismaterial für die Behauptung zusammengetragen wird, das Internet sei eine Art Dschungel, in dem Minderjährige als „Freiwild“ gälten. In Interviews vergleicht die Kinderschützerin die Internet-Communities mit ihren undurchschaubaren Mitglieder- und Nutzerhierarchien wahlweise mit dem „Nazi-Reich“ oder mit einem „Park“, in dem „Pädophile, Kriminelle und Drogensüchtige rumhängen“. Dem Stern, der sich der Bedrohung von Kindern durch Internet-Chats bereits vielfach gewidmet hat, empfahl Krafft-Schöning in einem Gespräch, Eltern müssten alle, sei es auch virtuellen, „Kontakte“ ihrer Sprösslinge „überprüfen“, um „die Flut an Sexualität in der Gesellschaft“ einzudämmen: „Im richtigen Leben möchten sie doch auch wissen, mit welchen Leuten sich ihr Kind abgibt“. Auch andere Netzinitiativen wie der Verein zur „Prävention von sexualisierter Gewalt“ Eigensinn e.V. oder das „Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch“ Amyna raten Eltern angesichts der Unübersichtlichkeit von Chat-Angeboten im Netz zur intensiveren Überwachung ihrer Kinder und erstellen teilweise „Negativlisten“ vermeintlich gefährlicher Chat-Seiten zwecks Eindämmung „sexualisierter Gewalt“ im virtuellen Raum.
Wo Sexualität nicht mehr als notwendigerweise omnipräsentes Moment gesellschaftlichen Lebens, sondern als aus der Fremde hereinbrechende, ominöse „Flut“ begriffen wird, verkommt Kindererziehung zwangsläufig zum Katastrophenschutz. Und bei solchem ist es bekanntlich fahrlässig, auf den Eingriff der staatlichen Instanzen zu vertrauen. Vielmehr muss jeder gute Bürger selbst sich als unmittelbares Vollzugsorgan der sexualpädagogischen Exekutive verstehen, deren Vorhut nach wie vor die Eltern sein sollen. „Sexy sein“, wird geklagt, „ist ein Wert geworden. Ein 16-Jähriger weiß heute genau, was Analsex ist und ist bestens informiert“. Waren es bessere Zeiten, als Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit an den Klapperstorch glaubten und das Wort „oral“ allenfalls mit Zahnpasta in Verbindung brachten? Nein, sagt Krafft-Schöning, das Problem sei vielmehr, dass die jungen Menschen trotz ihrer Informiertheit „nicht reifer“ geworden seien: „Deshalb rate ich den Eltern dringend, mit ihren Kindern über Sex zu sprechen.“ Dass die Popularität von sexuell zweideutigen Internet-Chats unter anderem darauf zurückzuführen sein könnte, dass Jugendliche es vorziehen, mit anderen Menschen als ihren Eltern über Sex zu sprechen, wird nicht einmal in Betracht gezogen.
Unbestritten ist Pädophilie, anders als manche Kinderschutz- und Feministenfeinde behaupten, keine kinderfreundliche Angewohnheit, sondern ein gesellschaftliches und individuelles Problem. Zweifellos auch haben sich die Formen von Pornografie und sexueller Belästigung durch das Internet auf unübersichtliche Weise vervielfältigt. Tatsächlich wäre in jedem einzelnen Fall von „sexueller Belästigung“ in Chatrooms zunächst einmal zu klären, wer hier überhaupt in welcher Absicht und mit welchem Vorwissen miteinander kommuniziert hat. Die eigene Identität nicht nur zu verbergen, sondern auch über die Identität des jeweiligen Chat-Partners im Unklaren zu bleiben, macht nun einmal den vielleicht unsympathischen, jedoch vorhandenen Reiz solcher Foren aus. Wer ihn im Namen des Kinder- und Jugendschutzes aus der Welt schaffen will, müsste in letzter Konsequenz die Foren selbst verbieten.
Die Kinderschutz- und Pornografiedebatten sind indessen nur das skandalträchtigste Beispiel für das immense Potenzial von „Überfremdungsangst“ und Denunziation, das selbst bei vernünftigen Menschen durch die kommunikative Praxis von Internet-Communities freigesetzt wird. Da wird ein Mädchen der Schule verwiesen, weil es über SchülerVZ ihre Lehrerin beschimpft hat; da wird über die Auswertung der Foren durch in- und ausländische Geheimdienste spekuliert, und individuelle Persönlichkeitsrechte, insbesondere das „Recht am eigenen Bild“, erscheinen durch Internet-Communities zunehmend bedroht.
Der Witz an all diesen, keineswegs immer nur verschwörungstheoretischen Geschichten besteht darin, dass sich die Foren selbst in ihrer Frühzeit als anarchische, irgendwie „linke“ Orte „horizontaler Kommunikation“ anzupreisen wussten. Das als bürgerlich verschrieene Prinzip geistigen Eigentums zu unterwandern, galt als ihr vornehmstes Ziel. Ähnlich wie Wikipedia lange Zeit der unverdiente Ruf anhing, eine Art universale informationelle Basisdemokratie verwirklicht zu haben, fanden sich auf Seiten wie Facebook allerlei virtuelle Partisanen zusammen, um „Netzwerke“, „Freundeskreise“ oder „Rhizome“ aufzubauen.
Die Realität hat solche Phantasien Lügen gestraft: An den Internet-Communities und Chat-Foren lässt sich allenfalls studieren, welchen Unrat unmündige Menschen absondern, sobald man sie virtuelle Volksdemokratie spielen lässt. Die Schüler und Studenten, die auf Seiten wie MeinProf mittels undurchsichtiger Rankings über ihre Lehrkräfte herfallen, bringen dabei keinen geringeren denunziatorischen Eifer auf als die pädagogischen Kontrollfanatiker, die SchülerVZ und StudiVZ gezielt nach Verleumdungen durchsuchen, oder die skrupulösen Unternehmenschefs, die den Namen jedes Praktikumsanwärters googeln, um herauszufinden, wer womöglich den Fehler gemacht hat, sich halbnackt oder alkoholisiert fotografieren zu lassen.
Schon daran lässt sich erkennen, dass die angeblich so pluralistischen Foren und Communities selbst ein ideales Medium jener basisdemokratischen Bespitzelung, Überwachung und Autoritätssucht sind, mit der manche ihnen nun, als dem Schreckbild von Promiskuität und haltlosem Liberalismus, Schranken auferlegen wollen. Der Mob, der von pädagogischen Verschwörungsexperten gegen die virtuelle Überfremdung in Stellung gebracht werden soll, tummelt sich selbst bereits begeistert im Netz – nicht zuletzt in den zahllosen Männerforen, deren Mitglieder manchmal gleichzeitig gegen „Kinderschänder“ und „Feminazis“ hetzen und an verbaler krimineller Energie nichts vermissen lassen.
Die Kritiker der vermeintlich kinder- und jugendgefährdenden Foren wie Schüler- oder StudiVZ haben denn auch herausgefunden, dass die Struktur solcher Seiten die Mittel für eine verstärkte Kontrolle selber bereitstellt: Eindringlinge mit falscher Identität und dubiosen Absichten lassen sich etwa an widersprüchlichen oder lückenhaften Profilen, an einem Mangel an „Freunden“ oder an verdächtigen Links erkennen und sollen, wie Kinderschutzorganisationen offen vorschlagen, in einer Form freiwilliger Selbstkontrolle unmittelbar von der Community bespitzelt, isoliert und gegebenenfalls angezeigt werden. Möglich wird dies nur, weil das Web eben nicht nach jenen subversiven, dehierarchisierenden Prinzipien organisiert ist, die sich postlinke Computernerds herbeiphantasieren. Vielmehr funktionieren die Foren eher wie eine x-beliebige Kommune, ein Kiez oder ein Wohnblock: Jeder wacht eifrig darüber, nicht allzu viel von sich preiszugeben, nie aus der Rolle zu fallen, Störenfriede und Schmarotzer zu melden und Exzentriker zu isolieren. In den virtuellen Weiten geht es nicht anders zu als bei Muttern daheim, wo man umso beflissener die Nachbarn grüßt, desto mehr man heimlich über sie lästert.
Die spezifische Wirkung der Internet-Anonymität besteht lediglich darin, gewisse zivilisatorische Rüstungen, die in der sozialen Außenwelt mitunter noch funktionieren, endgültig überflüssig zu machen. Keine fremde Macht bemüht sich via Internet, Kinder und Jugendliche mit schmutzigen Bildern und Ideen zu infiltrieren, sondern der universale Zwang zur Selbstverdinglichung reproduziert sich, lediglich verschärft, eben auch im Netz. Wer diesem Prozess unbedingt pädagogisch zu Leibe rücken will, sollte nicht die Medien-, sondern die Sozialkompetenz stärken. Und im Hinterkopf behalten, dass sexuelle Gewalt, wie die meisten Verbrechen, häufiger zu Hause vorkommt als im virtuellen Raum.
Magnus Klaue ist promovierter Germanist und forscht derzeit zum Begriff der Kulturindustrie in der Kritischen Theorie. Er lebt in Berlin
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