Dass er hierzulande als harmloser Humorist gilt, hat er seinem Übersetzer zuzuschreiben. Jean-Jacques Sempé vermochte nämlich weder mit seinen filigranen Zeichnungen vor sich hin träumender Mädchen noch mit seinen dezenten Bildminiaturen über Strandurlauber, Katzen oder Pariser Bürger das Herz der Deutschen zu gewinnen, sondern durch seine zwischen 1959 und 1964 mit René Goscinny entstandene Comicserie Le Petit Nicolas. Die machte in den siebziger Jahren in der Übersetzung von Hans Georg Lenzen als Der kleine Nick Furore, ihr Erfolg jedoch war teuer erkauft. Lenzen vereinfachte die extravaganten Figurennamen des Originals, in dem Nicolas’ Freunde Alceste, Eudes, Maixent und Louisette heißen, zu Otto, Franz, Max und Luise. Die Handlung wurde nach Deutschland verlegt, Goscinnys anspielungsreiche Sprache in eine anbiedernde Bubendiktion überführt. Daher rührt das Missverständnis, Le Petit Nicolas erzähle die Geschichte eines Jungen, dem Dinge geschehen, die alle aus der eigenen Kindheit kennen.
Der Geruch des Gartens
In Wahrheit hat Sempé stets Kinderträume erzählt, die, gerade weil sie niemals Wirklichkeit waren, durch das erwachsene Bewusstsein geistern. Obwohl seine Bilderwelt im bürgerlichen Alltag verwurzelt ist, entstammt sie im Grunde der kindlichen Phantasie, die jenem Alltag eine Aureole des Glücks verleiht. Aus ihr entstehen Bilder von zerbrechlicher Schönheit, die alles Hässliche, Bedrohliche oder auch nur Ärgerliche skurril, kokett und in jedem Fall reizvoll erscheinen lassen. Dass die Fähigkeit, sich die Wirklichkeit hin und wieder im besten Sinne zurechtzuharmonisieren, nicht von Naivität zeugt, sondern lebensnotwendig ist, betont Sempé in einem langen Gespräch mit dem Journalisten Marc Lecarpentier, das nun in einer einfühlsamen Übersetzung von Patrick Süskind und mit Zeichnungen des Künstlers vorliegt. Darin berichtet Sempé von der allabendlichen Qual, auf die Heimkunft des besäuselten Stiefvaters und den folgenden Streit mit seiner Mutter zu warten. Als der Streit einmal ausblieb, sei er „selig vor Glück“ gewesen, obwohl die Familie doch nur „einen stinknormalen Abend“ verbrachte.
Um das Unglück zu ertragen, das schon die Normalität als Glück erscheinen ließ, habe er Radio gehört. Besonders die Chansons des Orchestermusikers Ray Ventura hätten ihn vor der Depression gerettet. Auch die Lektüre von Illustrierten und Kriminalromanen sowie harmlose Schülerstreiche ließen ihn den Alltag zeitweilig vergessen. Die Erinnerung an solche Augenblicke verlorenen Kinderglücks, die oft Augenblicke der freien Zeit oder des Urlaubs sind, macht Sempé zum Ausgangspunkt seiner Arbeit: „Über das Abgelebte weiß man ja nicht immer Bescheid, sondern es taucht ganz plötzlich wieder auf: Geruchseindrücke, der Geruch des Gartens, der Duft von Pflanzen, die gerade gegossen worden sind, und dann diese erstaunliche Erkenntnis, die man erst hat, wenn man alt geworden ist, nämlich: dass man einmal Kind gewesen ist.“ Die Kindheit wird also nicht verklärt, sondern in eine Erfahrung verwandelt, die über das Erlebte hinausweist: „Ich bin davon überzeugt, dass man das, was man erlebt hat, in ein falsches glückliches Licht taucht, aber man kann nicht anders.“ Weil die Illusion keine Beigabe, sondern Voraussetzung von Erinnerung ist, sei es auch kein Zeichen von Naivität, sondern „einer der Vorzüge der Kindheit, dass man denkt, eines Tages wird alles gut.“
An anderer Stelle nennt Sempé diesen Gestus „untröstliche Heiterkeit“ und weist damit auf die heillose Trauer hin, die seine arglosen und zarten Zeichnungen durchdringt, ja die Arglosigkeit und Zartheit erst möglich macht. Wie die Schönheit impressionistischer Bilder, an die Sempés ebenso detailreiche wie flirrende Zeichnungen erinnern, erst dadurch entsteht, dass ihre Gegenstände schon beim Erscheinen im Verschwinden begriffen sind, ist die Heiterkeit von Sempés Skizzen vom traurigen Bewusstsein um ihre eigene Vergänglichkeit gezeichnet. Sempés launige Selbstauskunft, er habe, seit er zu zeichnen begann, „immer glückliche Menschen zeichnen“ wollen, zeugt also weniger von Optimismus als von einer unerfüllten Sehnsucht. Schließlich kann der Wunsch, glückliche Menschen darzustellen, nur deshalb zu einer Obsession werden, weil es in der Realität so wenige von ihnen gibt. Sempés dünne, kleine, mit unterbrochener Linie gleichsam hauchzart hingekritzelte Figuren bezeugen durch ihre zerbrechliche Physiognomie und ätherische Körperlichkeit, dass sie nicht ganz von dieser Welt sind.
Obsession für Mädchenfiguren
Wie ein zeitgenössischer Nachklang des Impressionismus wirkt auch das Motivrepertoire von Sempés Zeichnungen, von denen der Band eine in das Gespräch montierte Auswahl präsentiert: tanzende Paare in Caféhausgärten, Sandburgen bauende Kinder zwischen Sonnenschirmen, ein einsam in einem Pavillon musizierendes Mädchen. Überhaupt tauchen immer wieder Mädchen in Sempés Bildern auf. Anders als Jungen, deren Gestus er nur beim Fußballspiel schätzt, hätten kleine Mädchen „Grazie“, sagt er im Gespräch: „Vielleicht ist das eine Vorstufe zur Koketterie.“ Doch auch die Obsession für Mädchenfiguren führt er letztlich auf eine frühe Enttäuschung zurück, auf die Erfahrung, dass all die jungen Mädchen, die er als Kind erst beim Spiel, dann mit ihren Freunden im Park beobachtete, sich irgendwann in durch Mutterschaft und Hausarbeit frustrierte Frauen „ohne Charme“ verwandelt hätten.
Weil die wirklichen Menschen so oft von Dummheit und Gewalt gezeichnet sind, zeichnet er sie sich wieder schön. Wohl deshalb haben alle seine Figuren etwas von seinen Mädchen, während seine Mädchen von erwachsenem Ernst sind. Trotzdem haftet ihnen nichts Utopisches an, an jeder Ecke könnte es Menschen geben wie sie. Dazu passt, dass Sempé, für den „das Reale“ nur „der Schein der Wahrheit“ ist, auf die Frage, ob er Immanuel Kants „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik“ gelesen habe, einfach antwortet: „Das ist hübsch, Prolegomena. Könnte der Vorname eines treuen Dienstmädchens sein.“ Das Ewige ist eben eher eine Rüsche an einem Kinderkleid als eine Idee.
Kindheiten. Ein Gespräch mit Marc Lecarpentier Jean-Jacques Sempé Übersetzt von Patrick Süskind Diogenes 2012, 272 S., 39,90 €
Magnus Klaue schreibt regelmäßig für die Literaturseiten des Freitag
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