Ein Tag im Dezember

Sozialforum V Plädoyer für einen sozialistischen Individualismus

Der amerikanische Traum ist der des Individuums. In Zeiten des Neoliberalismus befällt dieser Traum Millionen von Männern und Frauen überall auf der Welt. In diesem Traum sind wir alle Individuen und nichts als Individuen.

So zauberhaft es auch sein mag, dieses Bild der Freiheit und Gleichheit deckt doch nicht alles ab. Es gibt andere Visionen. Auf eine davon nahm am 11. Februar 1956 der Montgomery Advertiser Bezug: "Wir halten die Wahrheit für selbstverständlich, dass alle Weißen gleich geschaffen sind mit gewissen Menschenrechten; darunter sind Leben, Freiheit und das Recht zur Verfolgung von Schwarzen." Einige Monate zuvor war etwas Unglaubliches geschehen. Es war ein Tag im Dezember 1955, als es Rosa Parks endgültig reichte.

Rosa war 43 Jahre alt, arbeitete als Näherin und war mit einem Bus der Cleveland Avenue Linie in die Innenstadt von Montgomery unterwegs. Tag für Tag eine erniedrigende Erfahrung. Wenn Weiße einstiegen, befahl der Busfahrer den schwarzen Passagieren, nach hinten zu gehen. Alle gehorchten. Außer Rosa Parks. Sie fing nicht an zu streiten, sie sagte kein Wort, aber sie bewegte sich auch nicht. Einige Minuten später erschien die Polizei am Tatort des fürchterlichen Vergehens. Parks wurde in Gewahrsam genommen und musste eine Strafe zahlen.

Das überaus gut besuchte Gemeinschaftstreffen, zu dem die schwarzen Gemeindeführer Montgomerys sofort nach Rosas Festnahme aufgerufen hatten, forderte alle Farbigen dazu auf, bis auf weiteres die Busse der Stadt Montgomery zu boykottieren. Viele waren für ihre tägliche Fahrt zur Arbeit auf den Bus angewiesen, aber von einem Tag zum anderen war der Boykott grenzenlos. Die Behörden und die weißen Rassisten waren außer sich. Sie versuchten alles Mögliche - von einer Vervierfachung der Taxipreise bis zur Festnahme von Schwarzen wegen "illegalen Autostopps". Sie ließen sogar eine Bombe am Haus des örtlichen Kirchenvorstehers Martin Luther King jr. detonieren, aber die schwarze Gemeinde ließ sich nicht beeindrucken. Ein Jahr später, am 20. Dezember 1956, wurde der Stadt Montgomery im US-Bundesstaat Alabama ein Urteil des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten zugestellt, in dem die Rassentrennung als Bruch der US-Verfassung bezeichnet wurde. Martin Luther King jr. bestieg daraufhin am folgenden Tag als erster Schwarzer wieder einen Bus in Montgomery, um einen der vorderen Sitzplätze einzunehmen.

Rosa Parks hatte den Aufbruch einer Bürgerrechtsbewegung ausgelöst, die es innerhalb eines Jahrzehnts schaffen sollte, das Verdikt der Rassendiskriminierung aus sämtlichen US-Gesetzen zu verbannen. Wofür stand Parks, als sie an jenem Morgen in einem Bus der Cleveland Avenue Linie auf ihrem Platz sitzen blieb? Sie selbst drückte es so aus: "Es war so erniedrigend, die Gemeinheit ertragen zu müssen, zwei Mal pro Tag in nach Rassen getrennten Bussen zu fahren, um in die Innenstadt zu gelangen und dort für weiße Leute zu arbeiten." Parks hatte aufbegehrt, und sie tat es für die Würde des Individuums.

Augenblicklich gehört der Individualismus der politischen Rechten, untrennbar verbunden mit Verstiegenheit, Selbstsucht und liberalistischer Wirtschaftspolitik. Dieser Individualismus scheint die Antithese zu jedwedem Begriff von Solidarität, gemeinsamen Interessen und kollektivem Kampf zu sein. Er sieht wie das Gegenteil dessen aus, woran - glaubt man gängigen Stereotypen - sich die politische Linke hält, denn dieser wird ein Hang zum Kollektivismus zugeordnet. Wo ließe sich in diesem System der Kampf für individuelle Freiheit durch Rosa Parks und die Ihren unterbringen? Und was ist Individualismus überhaupt? Strebt er nach dem Respekt für die Würde des Einzelnen, seiner Unabhängigkeit und Selbstentfaltung?

Wenn das den Individualismus beschreibt, gehört er dann wirklich ausschließlich der politischen Rechten? Wenn das so ist, wie hätte dann der amerikanische Sozialistenführer Daniel De Leon im April 1912 während einer heftigen Debatte auf seinen Opponenten Thomas F. Carmody, den Generalstaatsanwalt von New York, weisen und kühn behaupten können: "Wir klagen den Kapitalismus der Zerstörung des Individualismus an"? Kann man es Marx absprechen, ein begeisterter, überzeugter Individualist gewesen zu sein? Heutzutage ist dieser revolutionäre Individualismus wohl das am besten gehütete ideologische Geheimnis.

Mit der Konsolidierung der Sowjetunion in den dreißiger Jahren, als sich eine monopolistisch-bürokratische Diktatur etablierte, verkörperte der Kreml die globale Autorität des "Marxismus-Leninismus". Einem von Stalin erfundenen Karl Marx wurde die undankbare Aufgabe zuteil, einen Staat ohne Rede- und Versammlungsfreiheit, ohne unabhängige Gewerkschaften und ohne Rechtssicherheit zu legitimieren. Dem Kreml zufolge war ein solcher Staat die Inkarnation des Sozialismus.

Postwendend wurde Josef Stalin von der westlichen Politikwissenschaft zu einer Quelle der Autorität erklärt. Woran sich bis heute wenig geändert hat. Die Konsequenz davon war ein - kritisches Nachdenken erstickender - ideologischer Konsens, der Sozialismus als "kollektivistische Unterordnung der Individuen unter die Macht des Staates" definierte. Auf diese Definition konnten sich sowohl kommunistische, als auch bürgerlich-liberale und sozialdemokratische Regimes einigen. Es war im Interesse aller drei, dass der Sozialismus so verstanden wurde. Dieser Konsens hatte später, in den achtziger Jahren, viel mit dem Aufkommen des Neoliberalismus zu tun, er begünstigte ihn ungemein und war letzten Endes ein Geburtshelfer für die Theorie des "Dritten Weges".

Zweifellos bleibt der Individualismus eine immense ideologische Herausforderung für die Linke im 21. Jahrhundert, damit konfrontiert sind sowohl die Gewerkschaftsbewegung als auch die Globalisierungskritiker. Um ihr gerecht zu werden, erscheinen drei Positionen relevant: Erstens sollte die Linke den Neoliberalismus nicht mit dem Argument anklagen, er sei exzessiv individualistisch. Im Gegenteil. Sie sollte fragen: Wie befreiend für Individuen ist eine Weltwirtschaft, die Millionen von Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut stürzt? Geschieht es aus Sorge um das Individuum, dass die Lohnabhängigen einem immer stärkeren Druck ausgesetzt werden, willfährig zu sein, Überstunden und Lohnverzicht zu leisten, sich unzumutbaren Belastungen für Körper und Geist zu unterwerfen? Was hat es mit Individualismus zu tun, wenn die Werbeindustrie Milliarden Dollar in die zynischste Manipulierung und Ausbeutung der Gefühle und der sozialen Unsicherheit der Individuen steckt?

Zweitens muss die Linke darauf hinweisen, dass mehr individuelle Freiheit bisher immer nur durch gemeinsamen Kampf erreicht wurde. Der eindrucksvolle Busboykott vor 50 Jahren in Montgomery, bestand er nicht vor allem darin, dass Menschen ihre Freiheiten opferten, den Bus nicht benutzten, Hohn, Schikanen und Belästigungen von Weißen über sich ergehen ließen? Dass sie Opfer brachten für ein höheres Ziel, für die Freiheit und Würde des Einzelnen - für das Individuum? Schließlich sollte die Linke den Wohlfahrtsstaat im Namen eines radikalen Individualismus verteidigen und fragen. Sind die kollektiven Einrichtungen des Wohlfahrtssystems dazu gedacht, den Menschen ein Überleben auf unterstem Niveau zu sichern oder um die Würde, die Unabhängigkeit und die Selbstentfaltung der Individuen zu ermöglichen?

Nach dem erfolgreichen Protest vor sechs Jahren gegen den WTO-Gipfel in Seattle waren Konturen einer mächtigen Allianz zwischen der globalisierungskritischen Bewegung und der traditionellen Arbeiterbewegung zu erkennen. Mission dieser Kräfte sollte es sein, die gemeinschaftliche Mobilisierung für individuelle Freiheit fortzusetzen - gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts ist in dieser Hinsicht viel erreicht worden.

Magnus Marsdal ist Sprecher von attac Norwegen.


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