Computerpionier und IT-Kritiker: Wer war Joseph Weizenbaum? Lexikon zum 100. Geburtstag
A-Z Die meisten kennen Alan Turing, aber wer hat schon von Joseph Weizenbaum (1923-2008) gehört? Der entwurzelte Deutschamerikaner baute einen der ersten Chatbots und warnte später vor den sozialen Folgen des Computers
Joseph Weizenbaum war nicht nur Computerpionier, sondern auch eine mega coole Socke
Foto: Thomas Dashuber/laif
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Automation Die Karriere von Joseph Weizenbaum (1923-2008) beginnt im sonnigen Kalifornien. Nach seinem Militärdienst im Zweiten Weltkrieg und einem Mathematikstudium arbeitet er für verschiedene Technikunternehmen bis ihn Mitte der 50er Jahre General Electric einstellt, um an der Umsetzung des Bankensystems ERMA zu arbeiten. Es ist das Jahrzehnt der computergestützten Automatisierung, das der Unternehmer John Diebold mit seinem Buch Automation: The Advent of the Automatic Factory 1952 ausrief. ERMA (➝ Uterusneid) steht für Electronic Recording Machine, Accounting. Ein Computersystem, das Schecks auslesen kann, die mit einer magnetischen Tinte bedruckt wurden. Es beschleunigt die Scheck-Verarbeitung enorm. 30 Jahre später fragte Weizenbaum, wie die Bankenwel
heck-Verarbeitung enorm. 30 Jahre später fragte Weizenbaum, wie die Bankenwelt wohl ohne seinen Beitrag ausgesehen hätte: Dezentralisiert, weniger mächtig, gerechter? In den 50ern werden zwei weitere Forschungsfelder begründet, die Weizenbaums Karriere bestimmen: Künstliche Intelligenz (KI) und Informatik. Letzteres hergeleitet aus information und automatique.EELIZA Seinen Ruhm als Informatikpionier begründete Joseph Weizenbaum mit dem Programm ELIZA, das er 1966 öffentlich machte. Da war der Informatiker bereits Professor an der Elite-Universität Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er bis zur Emeritierung lehrte. Besondere Beachtung fand das Script DOCTOR, das er für sein Programm ELIZA schrieb. Per Tastatur können hier die Nutzer:innen mit einem Script reden, das sich wie eine Psychiaterin verhält, Nachfragen stellt, Familienkonstellationen adressiert. DOCTOR gilt als der erste Chatbot und erlangte rasch Bekanntheit. Dabei sei DOCTOR nie als Therapieprogramm angelegt gewesen, sondern als die Parodie eines solchen Programms, insistierte Weizenbaum stets. Trotzdem wurde ELIZA/DOCTOR zu einem frühen Erfolgsprojekt der KI-Forschung erhoben. In der Retrospektive macht Weizenbaum die naive Euphorie über sein Programm gar zum Mitauslöser für seine spätere Technikkritik (➝ Uterusneid).GGendarmenmarkt Weizenbaums Familiengeschichte, eine Wanderbewegung: Mit 12 Jahren kam sein Vater Jechiel, später Harry, aus dem polnischen Chrzanów nach Berlin, die Mutter war eine 20 Jahre jüngere Wienerin. Der väterliche Pelzhandel florierte, man wohnte am Gendarmenmarkt in Mitte, hatte Hausangestellte. Mit der Machtergreifung der Nazis nahmen die antisemitischen Repressionen gegen die Familie zu. Joseph und sein Bruder Heinz werden auf eine nunmehr exklusiv jüdische Schule zwangsversetzt. Dort müssen sie bleiben, bis der Familie 1936 die Ausreise in die USA gelingt. Ihr Wohnhaus in der Charlottenstraße 54 wird im Krieg zerstört. Mitte der 80er baut man hier im Anflug postmoderner Städtebauromantik das Hauptquartier der DDR-CDU in einem verklärenden Neo-Barock, das architektonisch nichts mit seinem Vorgängerbau zu tun hat.OOhnmacht Das Jahr 1976 wird gerne zu Joseph Weizenbaums Wendejahr stilisiert. Es erscheint seine einzige Monografie, die ein Jahr später auch bei Suhrkamp vorliegt: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Dem vorausgegangen waren die Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen am MIT und eine zweijährige Forschungsauszeit. Der Eröffnungssatz des Buches ist paradigmatisch für Weizenbaums Kritik: „In diesem Buch geht es nur vordergründig um Computer.“ Er kritisiert in seinem schmalen Band deren Top-Down-Einsatz im Militär, der Verwaltung, Industrie und Wissenschaft, besonders dort, wo tödliche Waffen produziert werden. Manches solle nicht mehr beforscht werden.Joseph Weizenbaum warnt vor dem „Imperialismus der instrumentellen Vernunft“ und befindet sich damit in einer illustren Gesellschaft von Kritikern post bellum – wie Hannah Arendt, Robert Jungk, Ivan Illich oder Herbert Marcuse. Weizenbaum wird so zum prominenten Computerkritiker aus dem Maschinenraum der Computerwissenschaft selbst (➝Parry).PParry Dass Weizenbaum in seinem bekannten DOCTOR-Chatbot ausgerechnet ein Therapiegespräch ( ➝ Tiefenanalyse) in der Manier des Psychoanalytikers Carl Rogers parodiere, passt in sein damaliges Arbeitsumfeld. Die KI-Forschung, aber auch die Kybernetik und später die Kognitionswissenschaften, beschäftigen sich intensiv mit der Frage inwiefern man mit einem Computer ein Elektronen-Gehirn nachbauen könnte, seit Computerpionier Alan Turing 1950 gefragt hatte: Can Machines Think? Was ist die Sprache des Gehirns? Gibt es eine formalisierbare Grammatik des Denkens?Joseph Weizenbaum lehnte den Nachbau eines Menschenhirns ab, befand ihn als antihumanistisch. Bevor er 1963 Professor am MIT wurde, wo er DOCTOR schrieb, hatte er in der Bay Area Kontakt mit dem Psychoanalytiker Kenneth Colby, der zur Informatik gekommen war.Man tauschte sich aus, entzweite sich aber über die Frage, ob man Computer bauen solle, die Menschen imitieren. Colby tat genau das. Er ließ PARRY entwickeln, einen Chatbot, der einen schizophrenen Patienten nachahmte. 1972 kam es dann zum Showdown der beiden Chatbots: Die Psychiater-Parodie DOCTOR (➝ ELIZA) parlierte mit dem Patienten-Bot ➝ PARRY.TTiefenanalyse Joseph Weizenbaum hat zu seiner Familie selbst die Tiefenanalyse geliefert, wohl nicht ganz unbeeinflusst durch eine eigene Psychoanalyse. Der Vater sei distanziert und abwesend gewesen, die Mutter war umso vereinnahmender und ließ ihren jüngsten Sohn manchmal wissen, dass sie bei seiner Geburt sehr gelitten hatte. Das erzeugte bereits im jungen Joseph Schuldgefühle. Seinem Vater hatte er es nie recht machen können, kein professionaler Erfolg sei groß genug gewesen. Selbst Weizenbaums Professorentitel, den sein Vater nicht mehr erlebte, wäre wohl nicht gewürdigt worden.Die zwei Brüder zogen als Erwachsene aus dieser Elternkonstellation verschiedene Konsequenzen: Joseph sucht nach väterlichen Freunden, der ältere Heinz fand seinen neuen Vater im katholischen Gott. Mit seiner Einbürgerung, contra nom de père, machte sich Heinz Weizenbaum zu Henry Francis Sherwood, in Anlehnung an Robin Hoods Waldrefugium. Den zweiten Namen wählt er als Ehrerbietung gegenüber dem Heiligen Franziskus. Ebenfalls in der aufblühenden Informatik tätig, zieht es Sherwood nach dem Krieg dann wieder nach Deutschland und er wird dort unter anderem Leiter des Diebold-Forschungszentrums (➝ Automation).UUterusneid Weizenbaum war Dissident, Provokateur der Computerwelt und gefiel sich in dieser Rolle. Am liebsten wendete er sich gegen die artificial intelligensia in Person von Marvin Minsky oder Hans Moravec. Er warf ihnen vor, sie arbeiteten an der „Endlösung der Menschenfrage“, wenn sie vom Nachbau menschlicher Gehirne träumten. Diese Hybris könne man nur mit ihrem Uterusneid erklären, einem Konzept der feministischen Psychoanalytikerin Karen Horney, meinte Weizenbaum. Kopfgeburten kompensieren Geburten. Beweis seien schon die Namen von Beststellern wie Moravecs Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Außerdem zeige sich in der Homogenisierung der westlichen Konsumgesellschaft „eine subtile Bereitschaft zur Gleichschaltung, von der Goebbels nicht einmal hätte träumen können“, schrieb Weizenbaum (➝ Ohnmacht). Man erwidert Weizenbaum, er wolle die KI-Befürworter missverstehen und nehme ihre Metaphern mit Absicht zu wörtlich. Carl August Zehnder, ein Schweizer IT-Pionier und bei der ELIZA-Veröffentlichung 1966 am MIT, nennt deshalb die Technikskeptiker gerne „Weizenbäume“.VVerstehen Weizenbaum hatte fünf Kinder, davon vier Töchter mit seiner zweiten Ehefrau, die alle in seiner Zeit in Kalifornien geboren wurden. Seine jüngste Tochter Naomi ist nicht nur im Dokumentarfilm über ihren Vater zu sehen – Rebel at Work (2006) – sie ist auch Protagonistin einer seiner Selbstcharakterisierungen, die Weizenbaum gerne erzählte. Die etwa Achtjährige Naomi kommt zu ihrem Vater und sagt: „Daddy, wie spät ist es? Und ich möchte aber nicht wissen wie eine Uhr funktioniert!“ Denn Weizenbaum kam gerne vom Stöckchen aufs Hölzchen. Eine andere häufig bemühte Uhren-Anekdote spielt in New York City und könnte aus einer Kurzgeschichte des russischen Surrealisten Daniil Charms stammen: „Plötzlich kam ein Mann auf mich zu und fragte mich auf Englisch: ‚Sind Sie Jude?‘ Ich antwortete: ‚Ja.‘ Da fragte er weiter: ‚Wie spät ist es?‘ Auch diese Frage beantwortete ich ihm. Ende. Das ist die ganze Geschichte. Wie soll man das verstehen? Haben Sie es verstanden?“ Die Pointe: Nicht alles in der Welt sei vollends verständlich, aber Maschinen könnten solch eine Geschichte schon gar nicht verstehen (➝ Zufall). Unter anderem weil ein Programm zur Spracherkennung vielleicht die Grammatik einer Sprache erlernen kann, aber nie verstehen, wie es ist durch New York zu gehen oder mit einem Fremden zu interagieren.WWurzelsprache Ende der 90er verlegte der ständig über den Atlantik jettende Weizenbaum seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland, das Land seiner „Wurzelsprache“, wie er sagte. Das Wort Heimat kam dem Informatikpionier – ein Ehrentitel, der er übrigens ablehnte –jedoch nie über die Lippen. Der Mann, der Amerikanisch mit deutschem Akzent sprach und Deutsch in englischer Grammatik, habe keine Heimat (➝ Gendarmenmarkt). Mit dem akademischen Kosmos am MIT hatte er immer etwas gefremdelt. Dort hätte man ihn und seine Gesellschaftskritik, die auch das MIT selbst traf, gerne als „Feigenblatt“ vorgezeigt, als das ethische Gewissen der Institution. In Berlin war das anders. Bereits seit den 80er Jahren war er verstärkt im deutschsprachigen Raum aufgetreten und hatte auch einige Gastprofessuren innegehabt. Käme das Gespräch in Deutschland allerdings auf sein Judentum, fühle er sich manchmal behandelt wie ein exotischer „Indianer“. Ein Außenseiterum, das er schon als Kind gespürt hatte und dem er später im Leben durch seine langen Haare Ausdruck verlieh.ZZufall 1957 war Weizenbaum in Europa. Während er erstmals wieder deutschen Boden betrat, nachdem er mit seiner Familie 1936 aus Berlin vertrieben worden war, erlitt der sogenannte Westen seinen Sputnikschock. Die Sowjetunion schießt im Oktober mit Erfolg einen Satelliten ins All (während sich in den USA die KI-Forschung konstituiert). Den Kalten Krieg und das Hochschaukeln der Systeme kommentierte Weizenbaum mit seiner mokanten Schnute. Vielleicht sei sein Werdegang bloß Zufall: „Meine ganze Karriere verdanke ich Stalin. Dem Wettrüsten und all dem. In diesem Zusammenhang wurden enorme Gelder in die Computerforschung gesteckt. Ich frage mich wirklich, wo die Computer-Technik heute stünde, wenn sie keine militärische Anbindung hätte.“