Wir brauchen neue Wege des Denkens

Gesellschaft Der Rassismus in Deutschland hat tiefe historische Wurzeln. Es wird schwer, ihn zu überwinden
Ausgabe 25/2020
Black Lives Matter-Mahnwache in Görlitz, Mitte Juni 2020
Black Lives Matter-Mahnwache in Görlitz, Mitte Juni 2020

Foto: Imago Images/Future Image

Da es die ARD bis dahin versäumt hatte, einen Brennpunkt zum Thema Rassismus auszustrahlen, übernahm das Carolin Kebekus in ihrer Comedy-Show. Eigentlich geht es dort lustig zu, diesmal ist es ernst. Moderiert von Shary Reeves, erzählen Schwarze prominente Deutsche von ihren alltäglichen Erfahrungen mit Rassismus. 8 Minuten und 46 Sekunden, so lange, wie in Minneapolis ein Polizist auf dem Hals George Floyds kniete, infolgedessen er starb. Was darauf in den USA und weltweit passierte, ist bekannt. Reeves spricht gezielt an ein weißes Publikum. „War ihnen das zu lang?“, fragt sie am Ende. Weiße Personen, erklärt sie, können den Beitrag abschalten, wenn es ihnen zu viel wird. Für Schwarze Personen wie sie lässt sich nichts abstellen. Rassismus ist immer da.

Ein zentrales Missverständnis hierzulande besteht darin, dass Rassismus etwas sei, von dem ein Teil der Gesellschaft betroffen ist, während er mit dem Rest nichts zu tun hat. Der allgemeinen Denke nach werden ein paar arme Opfer von ein paar bösen Tätern alltäglich rassistisch diskriminiert. Der große, brutale, schlimme Rassismus wird in den USA verortet. Diese Differenzierung hat System und der britische Soziologe Gary Younge vermutet den Ursprung dafür in der europäischen Linken, der er eine gewisse Form der Instrumentalisierung vorwirft. Durch die diskursive Auslagerung des Rassismus in die USA erscheint Europa gleichsam friedfertig und inklusiv. Die Solidarität mit den Opfern auf der anderen Seite des Atlantiks spricht weiße Europäer*innen von jedem Tatverdacht frei. Die tatsächliche Verantwortung, die aus der kolonialen Vergangenheit und der rassistischen Gegenwart Europas erwächst, tritt in den Hintergrund. Eine grundlegende Auseinandersetzung wird unmöglich.

Der Rassismus, dem Menschen in Deutschland in ihrem Alltag begegnen, markiert nur die giftigen Pilzköpfe an der Oberfläche einer gewaltigen, komplexen, zugrunde liegenden Struktur. Das allgemeine Wissen über Geschichte und Funktionsweise ist erschreckend gering. Zeugnis dafür ist eine merkwürdige Debatte, die in 60er-Jahre-Diskursen erstarrt zu sein scheint. Sie ist bestimmt durch veraltetes Vokabular, Beharren auf rassistischen Begrifflichkeiten, Rat- und Hilflosigkeit, weil Zusammenhänge weder gesehen noch eingeordnet werden können. In Deutschland hält sich der Glaube wacker, dass mit der Befreiung vom Faschismus auch eine Befreiung vom Rassismus einherging. Seit Beginn der Schwarzen deutschen Anti-Rassismus-Bewegung in den 80er Jahren hat sich nur sehr wenig getan. Vorhandenes Expert*innenwissen bricht nach wie vor zu leicht an den gewaltigen Wellenbrechern weißer deutscher Ignoranz. Es ist notwendig, Rassismus als strukturell und weniger als Einzelphänomene zu begreifen. Und dazu ist es notwendig, die richtigen Fragen zu stellen.

Eine dieser Fragen könnte sein, wo der Rassismus in Deutschland seinen Ursprung hat. Rassismus markiert die Schattenseite der Aufklärung. Während Kant und Co. die ideologischen Grundsteine für eine Modernisierung Europas legten, besiegelten sie zugleich das Schicksal Afrikas. Die Bewohner, fortan als minderwertigere Rasse gegenüber den Weißen markiert, wurden zur uneingeschränkten Verfügung freigegeben. Wer sich nicht wehren konnte, wurde versklavt, ausgebeutet oder ausgerottet. Nachdem es unter den europäischen Großmächten zu Unstimmigkeiten gekommen war, wurde der afrikanische Kontinent 1884/85 in Berlin unter der Führung Bismarcks und allein unter Berücksichtigung europäischer Interessen aufgeteilt. Es entstanden Ländergrenzen ohne Bezugnahme auf gewachsene kulturelle Gegebenheiten vor Ort. Bis heute hat der größte Teil dieser Grenzen Bestand, und bis heute führt das zu Konflikten innerhalb der Regierungen der Länder, die nicht selten sogenannte Fluchtursachen schaffen. Natürlich gibt es noch sehr viel mehr Gründe für Afrikaner*innen, ihre Heimat in Richtung Globalen Norden zu verlassen, doch sind die allermeisten davon nicht unabhängig von Europa zu sehen, das nach der formalen Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten bis heute engste wirtschaftliche Ausbeutungsverhältnisse pflegt, die das Leben auf dem Kontinent massiv beeinflussen.

Zum Beispiel Robert Koch

Eine weitere Frage, die kaum gestellt wird, ist die, welchen Einfluss der im Kontext des Kolonialismus entstandene Rassismus noch heute auf unser Denken hat. Über den Atlantischen Ozean spannte sich ein Dreieck, das die zentrale Handelsroute markierte, an der auch deutsche Reedereien und Handelsgesellschaften beteiligt waren. Sie brachten Dinge an die westafrikanische Küste, die leeren Boote beluden sie mit versklavten Menschen, die sie in die USA und in die Karibik schifften, von wo sie Kolonialwaren zurück nach Europa brachten. Mit Dingen und Körpern zirkulierte auch Gedankengut und manifestierte sich. Wer die Bilder von den gestapelten Menschenkörpern in Schiffsbäuchen kennt, begreift vielleicht, dass gute Christen nur deswegen in der Lage waren zu tun, was sie taten, weil sie annahmen, dass diese Menschen irgendwie anders, weniger wert, naturnäher, unbeherrschter, schmerzunempfindlicher waren als sie selbst. Es gibt ausreichend Beweise dafür, dass dieses Denken bis heute unterbewusst in uns wirkt. Es ist dasselbe Denken, das zu wenige aufschreien lässt, wenn ein Institut des Bundesministeriums für Gesundheit nach Robert Koch benannt ist, der medizinischen Ruhm durch Experimente an afrikanischen Körpern im damaligen Deutsch-Ostafrika erlangte. Experimente, die zu der Zeit an weißen deutschen Körpern verboten waren. Es ist dasselbe Denken, das Straßennamen und Denkmäler verteidigt, die Kolonialverbrecher ehren. Es ist dasselbe Denken, das ein Humboldt Forum errichtet, um darin die Deutungshoheit über geraubte Kulturgüter zu bewahren. Dasselbe Denken, das nicht weiße Körper kriminalisiert, ihnen keine Wohnung vermietet oder die Handtasche im Fahrstuhl fester halten lässt, wenn eine Schwarze Person zusteigt. Es ist dasselbe Denken, das nun „All Lives Matter“ fordert. Das ist richtig und wichtig, kommt allerdings 400 Jahre zu spät. Denn das Denken der Ungleichheit hat sich längst naturalisiert, d. h. ist in unseren Denkwindungen eingelagert.

Eine Frage könnte auch sein, was wir als Gemeinschaft tun können? Die afroamerikanische Aktivistin Angela Davis sagt seit Jahrzehnten, dass es nicht ausreicht, in einer rassistisch geprägten Gesellschaft nur gegen Rassismus zu sein. Man muss aktiv dagegen anarbeiten. Es muss darum gehen, neue Wege des Denkens zu etablieren, um unsere Gesellschaften zu transformieren. In Deutschland – so scheint es oft – haben wir damit nicht einmal begonnen. Der Tod George Floyds brachte ein Fass zum Überlaufen. Es bildete sich ein Fluss, der sich auch über Europa ergießt und Spuren einer leidvollen, unterdrückerischen Vergangenheit aus den Zentren der Städte fortschwemmt, um Raum zu schaffen für eine gemeinsame, inklusive Zukunft. Es geht nicht um Vergeltung, es geht um Gerechtigkeit, Respekt, Empathie und Würde, deren Unantastbarkeit im deutschen Grundgesetz verankert ist, über die absurderweise jeden Tag aufs Neue verhandelt wird. Vielleicht ist der erste Schritt, einfach zuzuhören und mit dem Verhandeln aufzuhören.

Mahret Ifeoma Kupka ist Kuratorin für Mode, Körper wie Performatives – mehr über ihre Arbeit lesen Sie hier –, und freie Autorin, Netzaktivistin sowie Beiratsmitglied der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland

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