Zwischen den Fronten

Literatur Der Reporter Andreas Altmann reist durch Palästina und trifft auf Fanatiker, Liebende und endlose Gewalt
Ausgabe 16/2014

Alltäglicher Irrsinn

Ein Dorf im Westjordanland. Hundert Demonstranten rücken auf eine Mauer zu, unter ihnen Frauen und Männer, Einheimische und einige Europäer. Kurz vor dem Schutzwall machen sie Halt, werfen Steine hinüber, schreien „Raus aus Palästina!“. Von der anderen Seite ruft es zurück: „Fuck Islam!“ Den Worten folgen erst Gummigeschosse, dann Tränengaspatronen. Die israelische Armee feuert damit auf die Demonstranten, die im beißenden Nebel auseinanderlaufen. Unter ihnen auch Andreas Altmann.

Der Reiseschriftsteller hat zuletzt mit seinem Bestseller Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend für Aufsehen gesorgt. Darin schilderte er eine Kindheit voller Unterdrückung und Gewalt. Den gleichen Themen widmet er sich nun in seinem neuen Buch Verdammtes Land. Monatelang ist Altmann durch Palästina gereist und hat mit Juden, Christen und Muslimen über einen der am längsten schwelenden Konflikte der Weltpolitik gesprochen. „Wer ein Buch über diese Weltgegend schreibt, wird scheitern“, ist sich Altmann im Klaren. Deshalb versucht er gar nicht erst, die Feindschaft zwischen Israel und Palästina politisch zu deuten, den Wahnsinn erklärbar zu machen. Stattdessen begibt er sich auf eine Reise durch eine tief gespaltene Gegend, in der sich auf beiden Seiten Hass und Stolz, Verbohrtheit und Heimatliebe versammeln.

Sein Augenmerk liegt dabei auf den Menschen und ihren Geschichten. Er erzählt von Hasan Habri, der 20 Jahre darum kämpfen musste, dass ihm Israel einen Teil seines besetzten Privatgrundstücks zurückgibt. Von den Israelinnen Ina und Daniela, die Bustouren durch Palästina organisieren, um über die Schikanen der israelischen Armee aufzuklären. Und von fanatischen Touristen, die sich im Jordan taufen lassen und den Palästinensern kein Recht zusprechen, weil Gott sie nicht erwähnt habe.

Altmanns Stärke ist seine Offenheit. Ob Soldaten, junge Frauen mit Kopftuch oder Hassprediger, er spricht alle an, will jede Meinung anhören. Und schreckt nicht davor zurück, sich eine eigene zu bilden – hat er am Anfang noch Verständnis für den Staat Israel, wächst im Laufe seiner Reise die Wut auf das Land, das ein anderes einmauert und sich schleichend einverleibt. Zum Agitator wird er jedoch nicht, auch auf palästinensischer Seite findet er Gewaltbereitschaft und Fanatismus. Seiner wachsenden Faszination für das karge Land und seine gebeutelten Bewohner tut das jedoch keinen Abbruch. Von Jericho bis Bethlehem, von Jerusalem bis Hebron reist Altmann, besucht Villen und Wellblechhütten, auf der Suche nach Geschichten.

Als größte Absurdität macht er dabei die Religionen aus, die Menschen dazu bringen, sich einen Sprengstoffgürtel umzubinden oder andere von ihrem Land zu vertreiben, weil Gottes Wort ihnen dieses angeblich versprochen habe. Immer wieder verzweifelt Altmann an den religiösen Fanatikern: „Das ‚heilige’ Land taugt auch als riesige Freilichtbühne, auf die sich all jene verlaufen haben, die man an anderen Orten mit Blaulicht einfangen würde.“

Geschildert wird das in der typischen Altmann’schen Mischung aus Rotzigkeit und Poesie. In kurzen Kapiteln schildert er seine Erlebnisse. Mal sind es nur Gedankensplitter oder kleine Beobachtungen, mal Reflexionen über den Ursprung des Antisemitismus und seine Bedeutung für den Konflikt. Für Religiosität, die auf allen Seiten zu finden ist, hat Altmann meist nur Hohn und Spott übrig. Ein Zyniker ist er aber nicht. Er gibt zu, dass ihn der Abendhimmel über Ramallah zu Tränen rührt und die Leidenschaft mancher Israelis und Palästinenser für den Frieden tief bewegt.

Zum Ende seiner Reise findet sich der Reporter wie zuvor schon einmal in einer Demonstration wieder, diesmal in Nabi Saleh. Wieder kommt es zur Konfrontation, die Palästinenser setzen ihre Steinschleudern ein, die israelischen Soldaten schießen mit Tränengas. Altmann wird abgeführt, ist von Soldaten umringt. Er mag Extremsituationen, aber jetzt fühlt er Panik. Doch er hat Glück, sie lassen ihn laufen, es ist nur eine weitere Aktion im Kampf zweier Länder. Einen Kampf, den Altmann in Verdammtes Land schildert. Maik Siegel

Leseprobe

Zwischen den Fronten

Andreas Altmann macht sich auf eine Reise, die ihn mitten hinein in den Nahost-Konflikt führt. Er protestiert gegen einen Hausabriss der israelischen Armee und besucht die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem

Wer ein Buch über diese Weltgegend schreibt, wird scheitern. Israel und Palästina, das ist ein Brandherd, der nicht aufhört zu lodern. Seit über sechzig Jahren entzündet er die Gemüter. Und keine Vision weit und breit, um die zwei Völker zu versöhnen. Unfassbar viele Vernagelte, auf beiden Seiten, versperren den Weg. Unfassbar viele Bücher wurden inzwischen darüber geschrieben. Und keines schien mitreißend genug, sie alle zur Einsicht zu verführen. Ich riskiere es trotzdem: noch ein Buch abzuliefern. Weil mich inzwischen jede Illusion – die Antwort zu finden – verlassen hat. Und weil ich nichts als Geschichten erzählen will. Von den einen, die andere quälen und erniedrigen. Und den anderen, die gequält und erniedrigt werden. Und die Geschichten von Heldinnen und Helden, die es herzzerreißend zäh und tapfer mit ihrer Wirklichkeit aufnehmen. Von Frauen und Männern eben, von denen jeder – all wir anderen – etwas erfahren könnten: über Würde, über Stolz, über schiere Tapferkeit. Und über die Sehnsucht, ein passables Leben zu führen. Klar, vom Irrsinn und der Lächerlichkeit wird auch die Rede sein. Denn das muss man dem winzigen Erdteil lassen: Storys hat er zu bieten, an jedem Eck, zu jeder Stunde. […]

Mit einem Sammeltaxi nach Nablus. Eine Stunde lang muss ich mich um nichts kümmern, brauche nur da zu sein und zu schauen. Vorne lenkt einer und hinten sitzt einer, der jetzt durch wuchtige Landschaften fahren darf, nein, gefahren wird. Auf die Frage nach seinem Beruf antwortete einst Albert Londres, der Urvater aller französischen Reporter: „Je suis un voyeur“, ich bin ein Sehender. Das muss ein Traumberuf sein: die Welt ansehen. So fassungslos einen der Blick bisweilen zurücklässt. Aber der Reisende muss nicht in Akten wühlen, nicht die Stinklaunen seiner Arbeitgeber erdulden, nicht sich dabei ertappen, wie seine Lebenszeit bei einer Tätigkeit zuschanden kommt, von der er nie geträumt hat. Er schaut – und begreift sein Glück. Bald steigt eine junge Frau zu. Wir kommen ins Gespräch. Julia D. hat einen amerikanischen Vater, eine Mutter von den Philippinen und ein schönes eurasisches Gesicht. Seit einem Jahr arbeitet sie in Nablus für eine NGO, die sich darauf spezialisiert hat, hiesigen Bauern bei der Bewässerung ihrer Felder – Wassermangel ist ein Riesenproblem – zu helfen. Damit sie ökonomischer mit den vorhandenen Ressourcen umgehen. Ja, sie hat sich in das Land verliebt. Sie weiß nicht genau, warum. Denn nichts ist leicht hier. Man muss aufpassen und darf keine Fehler machen. Seit der Zweiten Intifada sind die Leute noch misstrauischer. Gerade bei attraktiven westlichen Frauen, die hier leben und als Agenten Israels verdächtigt werden. Weil sie – so erzählt die studierte Agronomin – auf Palästinenser angesetzt werden: um sie zu verführen und die Verführung heimlich zu filmen. Als Mittel der Erpressung: Entweder arbeitet der Verlockte als Informant für den Shin Beth, oder das Material wird der Familie, inklusive Ehefrau, zugespielt. So gibt es Verräter aus Geldgier und Verräter aus schierer Not. Julia hat sich arrangiert. Ihr holländischer Freund darf sie nur besuchen, weil sie dem Wohnungsbesitzer versichert hat, dass sie verlobt sind. Wird sie von lästigen Männern – die gibt es weltweit – angesprochen, reagiert sie mit totaler Ignoranz. Die hat sie trainiert: null Reaktion, auch keine aggressive.

Wie eine Zen-Meisterin geht sie ihren Weg. Die 28-Jährige klärt mich auf (und senkt die Stimme): Sie hat palästinensische Freundinnen, unverheiratet, die mit ihren Freunden nur anal schlafen. Um sich ihrem Ehemann, eines Tages, als „Jungfrau“ präsentieren zu können. Der Druck der Tradition, der Religion, liegt wie eine Grabplatte auf der Gesellschaft. Sie verführt, so Julia, zur 24-Stunden-Bigotterie. Die Frau ist eine Goldgrube, sie kennt sich aus. Während sie erzählt, deutet sie auf die jüdischen Siedlungen und die israelischen Militärbasen, die links und rechts liegen. Mitten in Palästina. Sie weiß alle Namen, auch die der Checkpoints, an denen Palästinenser kontrolliert werden und Fremde darüber entscheiden, ob sie weiter durch ihr Land fahren dürfen oder nicht. […]

Tränengas und Steinschleuder

Ich spare mir eine detaillierte Beschreibung der Vorgänge, denn es wird ähnlich wie in Bil’in ablaufen. Allerdings ist hier die Konfrontation direkter, gefährlicher, denn keine neun Meter hohe Mauer trennt die feindlichen Lager. Als die Sechzig vorrücken, beginnen die Dreißig zu schießen: das Tränengas, die Gummigeschosse, die Höllenlärmbomben, das Stinkwasser. Unser Pulk stiebt auseinander, die meisten nach links, Richtung felsige Anhöhe. Und verteilen sich. Die jungen Männer holen ihre Steinschleudern heraus und legen an. Wie Flöhe, die sich mit einem Adler anlegen. Aber es geht um ein Symbol: dass der Widerstand nicht aufhört, dass Stolz und Würde nicht verhandelbar sind. Von Janne, einem Norweger, erfahre ich, dass seit gewisser Zeit verstärkt Ausländer, die an Demonstrationen teilnehmen, verhaftet werden. Um sie abzuschieben. Ausländer stören, denn sie bezeugen. Nach der dritten Runde – dazwischen immer wieder Rückzug zur Tankstelle, um die vergasten Augen zu behandeln – gehe ich die zweihundert Meter auf die zweieinhalb Dutzend Soldaten zu, die sechs Jeeps und den Stinkwasserwerfer. Rasin, blutjung, begleitet mich. Unaufgefordert. Und zielt mit Steinen auf seine Feinde. Wahnsinnig beruhigend ist das nicht. Doch wenn ich jetzt umkehre, verliere ich mein Gesicht. Keine Ahnung, was mich reitet, aber ich will wissen, was passiert.

Auf den letzten hundert Metern dreht Rasin um. Ginge er weiter, würde er tatsächlich sein Leben riskieren. Ich nicht, denn bei einem Nicht-Palästinenser sind sie zögerlicher mit dem Töten. Die mediale Aufmerksamkeit würde schaden. Um das Risiko zu mindern, bin ich diesmal ohne jedes Gepäck unterwegs. Ich habe nichts an mir, um fünf Kilo Dynamit verstecken zu können. Zudem trage ich ein eng anliegendes Hemd, damit keiner auf die Idee kommt, ein Sprengstoffgürtel klebe an meinem Bauch. Per Megafon werde ich aufgefordert, die Hände nach oben zu strecken. Drei Soldaten – ausreichend bewaffnet, um tausend Büffel in Schach zu halten – kommen näher, einer raunzt: „Your passport!“ Da sich die Hände noch immer über meinem Kopf befinden, bedeutet er mir, dass ich sie wieder benutzen darf. Während ich ihm das Dokument reiche, fragt er: „Where you from?“ Jetzt erschrecke ich leicht und antworte: „From Germany.“ Und er wiederholt das Wort, auf Hebräisch, unüberhörbar süffisant: „Ah, germanja.“ Dann der wunderlich komische Satz: „I arrest you.“ Okay, jetzt bin ich dran, jetzt schleppen sie mich nach Tel Aviv und setzen mich in das nächste Flugzeug nach Europa.

Als wir die Wagenburg erreichen, werde ich an einen Polizisten, Modell Schwarzenegger jr., übergeben. Dicke Muskeln zucken entlang der nackten Oberarme. Bei solchen Einsätzen ist immer die Polizei dabei, denn nur sie darf offiziell Verhöre und Verhaftungen durchführen. Auch er fragt als Erstes nach meiner Nationalität. Obwohl er sie bereits weiß. Sieben Soldaten bilden einen Kreis um uns. An ihren Blicken ist zu erkennen, dass sie nicht meine sieben besten Freunde sind. Ein Deutscher im Land der Feinde des israelischen Volkes, das klingt nicht gut. Der Muskelmann fragt barsch, warum ich mich hier aufhalte.

Ich bin hoch konzentriert, denn wie jeder Fremde habe ich die Bilder im Kopf, die vor ein paar Wochen um die Welt gingen: Oberstleutnant Shalom Eisner rammt den Gewehrkolben seiner M16 in das Gesicht von Andreas Las. Das Video ist eindeutig, nicht ein Hauch von Aggression von seiten des zwanzigjährigen Dänen rechtfertigte diesen Akt exquisiter Gewalt. Deputy Commander Shalom („Friede“) verlor, unübersehbar, die Nerven. Wie so viele, so oft. Nur war diesmal eine Kamera dabei und die Beweise duldeten keine Ausrede und keine Schuldzuweisung an andere. Mir ist auch bewusst, dass ich in diesen Momenten allein bin und keiner später mit Filmmaterial meine Harmlosigkeit belegen könnte. Zudem ähneln alle acht Anwesenden gerade dem uniformierten Hitzkopf S. E. Ich will nichts dramatisieren, aber ich will vorsichtig sein. So antworte ich besonnen auf die Frage nach dem Grund meiner Anwesenheit: dass ich gehört habe, dass hier und heute eine Demonstration stattfände und dass ich sie sehen wollte. Und der Barsche, noch barscher: „This is a military zone, it’s forbidden to be here.“ Um seinen Kasernenhofton zu entschärfen, berichte ich – wieder ohne die Stimme zu heben – von dem Checkpoint direkt vor Nabi Saleh, wo keiner der beiden Soldaten irgendein Verbot ausgesprochen hätte.

Rasend schnell schießen mir – während wir schweißgebadet diese Realgroteske aufführen und ich nun fotografiert werde – ein paar Gedanken durch das Hirn: Natürlich die Erinnerung an Mister Shaloms Gewehrkolben und die Nachricht, dass Friedensaktivist Las anschließend im Krankenhaus behandelt werden musste. Seltsamerweise taucht auch Silvana auf, die mir gestern von einem muslimischen Gelehrten aus dem 11. Jahrhundert erzählt hatte, von al-Ghazali, der von den „Fesseln des Taqlid“ sprach, den (zufälligen) Fesseln der Sozialisation, damals gemeint: der religiösen Sozialisation. Al-Ghazali – unglaublich mutig für seine Zeit – ging davon aus, dass er mit dem genau gleichen Enthusiasmus, mit dem er Muslim geworden war, einem anderen Glauben hätte folgen können. Aber er wurde eben ein Verfechter des Islams, weil er in einer muslimischen Umgebung aufgewachsen war. Wäre er dreihundert Kilometer entfernt zur Welt gekommen, wäre er logischerweise Jude geworden. Oder Christ. Modern übersetzt: Glaube ist eine Frage der Geografie.

Und so sehe ich unverwandt in die Augen des Bodybuilders, der zufällig Jude wurde und deshalb für jüdische Wahrheiten hochrüstet. Um Krieg zu führen gegen die – jetzt so nahen – Steinewerfer, die einen Analphabeten namens Mohammed für den einzigen Wahrheitskünder halten. So bekriegen sich ewige Wahrheiten seit ewigen Zeiten. Gefesselt von Taqlid, vom fantastischen Hokuspokus, der ihnen vom dritten Atemzug an eingetrichtert wurde. Nicht anders als mir – dem Ex-Katho, noch zahnlos – das Gruselmärchen vom kreuzgeschlachteten Gottessohn eingeträufelt wurde. Der wegen mir, dem Sünder, geschlachtet wurde. Und ich später lernte, dass die Christenmenschen am erfolgreichsten – im Namen ihrer ewigen Wahrheit – die anderen Ewige-Wahrheiten-Besitzer dezimierten.

All das rast in Sekunden durch meinen Kopf, wobei ich nicht aufhöre, dem israelischen Verhörer ins Gesicht zu schauen und mich, unhörbar leise, frage, ob er begreift, wie monströs lächerlich die Situation ist. Acht Schwerbewaffnete mit mindestens einem Zentner Munition umzingeln mich, eine Kamera wird mehrmals in Stellung gebracht, schwerwiegende Fragen schwirren durch die Luft: ein martialischer Zirkus, als gelte es, einen Dschihadisten – noch blutüberströmt vom misslungenen Selbstmordversuch – zum Gestehen der Adressen seiner Komplizen zu treiben. Und was haben wir in der Wirklichkeit? Einen schmalen Herrn, nur bewaffnet mit einem Kugelschreiber, der unsichtbar unter dem Hemd baumelt, und einem winzigen Schreibblock, so handtellerklein, dass er unauffällig in der linken Hosentasche Platz hat. Da ich grundsätzlich diskret auftrete – ohne prunkvolle Vieltaschenweste, ohne grellgelben „PRESSE“-Leuchtstreifen auf dem Rücken –, kann ich jeder sein: der arglose Herumsteher, ein unbedarfter Zaungast, ein freundlicher Senior, der sich verlaufen hat. Lauter Tarnkappen, um verstohlen und unverdächtigt meine vier wichtigsten (Reporter-)Werkzeuge einzusetzen: meine Augen, meine Ohren, meine fiebrige Intuition und meinen welthungrigen Verstand. […]

Happy Hour in Palästina

Ich finde eine Unterkunft aus dem vorletzten Jahrhundert mit einem blitzschnell funktionierenden WLAN-Zugang. Und spaziere durch Yatta, umtriebig und architektonisch gnadenlos öde. Bis ich an einem ganz und gar exotischen Kaffeehaus vorbeikomme. Eine Art Drive-in Coffee Shop: Neben dem Trottoir steht die mächtige Kaffeekanne, auf einem Tischchen, warm gehalten via elektrisches Kabel, das von der Kaffeekannen-Steckdose in den nächsten Laden führt. Investition, grob geschätzt: dreißig Euro. Rendite: 500 Prozent. Denn so viele, ob nun Fußgänger, Taxichauffeur oder Lastwagenfahrer, bleiben stehen oder bremsen und wollen umgehend den Ein-Schekel-Kaffee. Und ein Junge, sicher das Ladenbesitzerkind, schenkt aus, am laufenden Band. Und die einen tragen die Papptasse zurück in ihr Fahrzeug und düsen weiter und die anderen setzen sich auf die lose verteilten Stühle und genießen. 17.49 Uhr, Happy Hour in Palästina. Wieder mit einem Himmel, unter dem man die Arme ausbreiten will, so seidig und so tausendfach rot zieht er über uns auf. Der Ausdruck masel tov fällt mir ein. Zwei schöne Wörter aus dem wunderschönen Jiddisch, die „Glück wünschen“ bedeuten. Ein israelischer Bekannter hat vor ein paar Tagen damit eine Mail an mich unterschrieben. Jetzt ist es so weit: Glückswellen ziehen durch mein Herz. […]

Am frühen Morgen schreibe ich – noch im Zimmer – mein (digitales) Tagebuch. Bis jemand kurz vor neun an die Tür klopft. Der Rezeptionist, ich solle nach unten kommen, ein Anruf für mich. Es ist Eid, denn nur er weiß, wo ich bin. (Ich hatte ihm abends die Nummer gemailt.) Er ist außer sich: Israelische Soldaten rücken in diesem Augenblick in Um al-Kher ein, ich solle mich sofort auf den Weg machen. Da Eid bereits gestern von einer Ahnung sprach, von wegen Hausabriss, ja, meinte, dass ein Besuch der Besatzer überfällig sei, war ich seit dem Aufstehen in Stand-by: Ich verstaue den Computer und renne nach einem Taxi. Das erste, das hält, gehört Mahdi, er ist jung und in Rennfahrerlaune. Diesmal kenne ich den Weg, zwanzig Minuten später erreichen wir die Beduinensiedlung.

Die Machthaber und die Gerätschaften ihrer Macht haben bereits Stellung bezogen. Über zwei Dutzend Schwerbewaffnete, zwei Panzerwagen und ein Polizeijeep stehen bereit. Und ein Bulldozer. Die Stimmung ist längst geladen: die Schreie der Dorfbewohner, die Schreie der Soldaten, die Schreie der knapp zwanzig Ausländer, die, wie ich, überstürzt herbeigeeilt sind. Erst eine Stunde vorher, nicht eher, erfuhren die Hausbesitzer, dass ihr „illegales“ Heim, jetzt gleich, zerstört wird. (Grundsätzlich so: um keine Zeit zu lassen, Widerstand zu organisieren.) Und wie üblich fuchteln die Besatzer mit ihren Sturmgewehren. Um jeden vom Ort der Untat zu verscheuchen, sprich um die Schneise für den Caterpillar-Panzer frei zu halten. Viele der Fremden filmen mit ihren Mobiltelefonen. Um die Schandtat festzuhalten. Aber die Hybris der Täter ist schon lange nicht mehr einzuschüchtern. Ob gefilmt oder nicht, ob hinterher auf Youtube oder nicht, sie werden jetzt etwas tun – wie bereits zwanzigtausend Mal zuvor in Palästina –, das böse ist, das unfassbaren Stress über die Opfer bringt und das wohl in vielen Anwesenden eine schier hemmungslose Verachtung entfacht, ja, gleichzeitig ein bodenloses, ja, bodenlos ohnmächtiges Gefühl von Mitgefühl: Man sieht die Familie neben ihrer erbärmlichen Steinhütte sitzen. Und schluchzen. Schluchzen neben dem erbärmlichen, vor Minuten herausgeräumten Hausrat. Man sieht die fassungslosen Männer und hört das Röhren des Bulldozers, der Kampfmaschine, die näherrollt, sieht die Soldaten mit ihrer Waffe im Anschlag und hört das Brüllen ihrer Befehle, hört die an ihren Ketten reißenden Hunde, hört das Heulen der Mütter, das hysterische Schreien der Umstehenden, sieht die Kinder ihre sprachlosen Gesichter bedecken.

Aber es gibt noch einen Aufschub. Weil ein kleines Wunder passiert. Weil a mensch auftritt, weil Eid, der neben mir steht, plötzlich wild gestikulierend auf Ezra zeigt, den Israeli, seinen besten Freund, der jählings aus einem unvermuteten Eck auf die Steinhütte losrennt und in ihr verschwindet. Das ist riskant, aber nicht lebensgefährlich, denn die Armee wird keinen Juden töten. Doch sein Verhalten wird ihm ein weiteres Mal den Titel eines „self-hating Jew“ einbringen. Zudem muss er mit Gefängnis rechnen. Eine Anstalt, die er bereits kennengelernt hat. Wegen ähnlicher Mutproben.

So hetzen die Soldaten hinterher und zerren Ezra nach draußen. Sie tun das auch deshalb, weil vor Jahren eine Amerikanerin (keine Jüdin) von einem Bulldozer überfahren wurde. In der gleichen Situation, in der sich jetzt Ezra befindet. Und Rachel Corrie als verstümmelte Leiche liegen blieb. Und ihr Tod wieder einmal miserable Publicity über die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ brachte. Ezra versteht etwas von Wirkung. Er weiß, dass seine Aktion das Grauen der Szene verlängert, im richtigen Sinn verlängert. Denn das gerade stattfindende Verbrechen soll sich in den Köpfen der Anwesenden festsetzen, für lange Zeit. Soll natürlich auch zeigen, dass es Israelis gibt, die für Palästinenser kämpfen, die längst verstanden haben, dass hier ein in den Himmel schreiendes Unrecht inszeniert wird. Der Stresspegel will nicht sinken. Weitere zwei Mal rennt Ezra zurück, zwingt die 500-PS-Maschine zu bremsen. Und mit immer wütenderen Griffen schleifen die Soldaten ihren Landsmann ins Freie. Bis sie ihm mit einem Kabelbinder die Hände fesseln und ihn in einen der Jeeps verfrachten. Aber noch auf dem Weg dorthin wehrt sich der 60-Jährige, schreit sie an, schreit ihnen ihre brachiale Rohheit ins Gesicht: nicht ihm, nein, den Einwohnern hier gegenüber.

Und dann ist der Weg endgültig frei, die fünftausend Kilo Stahl müssen nur ein einziges Mal rammen und das Haus liegt in tausend Teile verstreut auf dem Boden. Und damit ganze Arbeit, ganze saubere Arbeit, getan wird, stößt der Fahrer noch einmal zurück und fährt mit neuem Schwung hinein. So dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Und die Soldaten bewachen und die Siedler stehen am Zaun und der fauchende Wind trägt das Weinen der Mütter in die Welt. Viele Gedanken rasen mir durch den Kopf. Plötzlich erinnere ich mich an meine katholische Kindheit: Früh lernte ich, dass Erzkatholizismus gleich Erzantisemitismus bedeutete. Die Semiten waren ja laut unseren Religionslehrern die „Christusmörder“. In der gesamten Verwandtschaft hatten die „Juden“ – nie fiel ein anderes Wort – keinen Verbündeten. Stand in der Zeitung ein Artikel, in dem ein „Jude“ – als Banker, als Hausbesitzer, als Politiker, als was auch immer – irgendetwas Übles getan hatte, dann flogen die vielsagenden Blicke. Und der eine sagte: „Na klar, Jud’ halt.“ Und ein anderer sagte: „Schau dir das Foto an, hast du die Nase gesehen?“ Auschwitz lag noch keine fünfzehn Jahre zurück, aber das spielte für meine Umgebung keine Rolle. Der Jude war das Urschwein, basta.

Ich sehe nur Menschen

Und ich schaue auf die Verwüstung in Um al-Kher, so viele Jahre später, sehe die Verwüster und ihre hämischen, bösen Gesichter und höre – ausgerüstet mit einem hochsensiblen Seismografen – in mich hinein: Steigt „Judenhass“ in mir hoch? Sind wieder die „Hakennasigen“ am Werk und proben einmal mehr die Weltherrschaft? Hat es die Rastlos-Raffgierigen sogar hierher verschlagen, um nach den letzten Quadratmetern fremden Eigentums zu krallen? Nein, diese Sorte Hass kommt nicht, tatsächlich nicht. Nein, ich sehe nur Menschen, nur rabiate Machthaber, die rabiat ihre Macht missbrauchen. Wie an anderen Orten der Welt auch, an denen ich zufällig anwesend war und Ausbeuter entdeckte, die ganz anders aussahen, mit Rechtfertigungen, die ganz anders klangen, mit Göttern, die einen ganz anderen Irrsinn predigten. Die Fratze der Gier und der Unmenschlichkeit konnte ich (kann man) an so vielen verschiedenen Schauplätzen beobachten. Meist an absolut „judenfreien“.

Jetzt, um 10.47 Uhr, weiß ich wieder, was ich schon lange wusste: dass es ohne jeden Belang ist, welcher Religion ein Mensch angehört, ob Christ oder Jude oder Moslem oder Hindu oder vollkommen glaubenslos, ohne Belang, zu welcher „Rasse“ er zählt, ob der Mensch Jude ist oder Araber, dunkelschwarz oder hellweiß, ob einer seinen Unterhalt als Clown oder Reisbauer verdient, ob er im Nahen Osten oder in Hinterindien lebt, ob er an Gott glaubt oder einem anderen Aberglauben vertraut, ob er stinkt vor Geld oder stinkt von den Abfallhaufen, in denen er wühlen muss, ob jung oder alt, ob Schöngeist oder einfaches Menschenkind: Es gibt Frauen und Männer, wie hier gerade, die schon taub geworden sind, schon vereist, schon erstickt in ihren hornhautverschweißten Herzkammern. Und es gibt die anderen, wie Ezra zum Beispiel, die haben sich dieses klare Herz bewahrt und spüren untrüglich, was gut ist und was nicht.

In meinen fliegenden Gedanken taucht auch der Name von Marek Halter auf. Ein französisch-jüdischer Schriftsteller, der die Frage von Gut und Böse in einem Interview auf wundersam bewegende Weise beantwortet hat: „Gut ist, was Menschen hilft zu leben, und schlecht ist, was sie daran hindert.“ Hier geht augenblicklich das Schlechte um. Denn die Machthaber, zufällig Juden, verachten die Machtlosen, zufällig Palästinenser. Und gönnen ihnen nichts, nicht einmal ein Wellblechdach auf schiefen Mauern. In deren eigenem Land.

Mein Kopf beamt nach New York, in die Subway. Dort gab es eine Plakatkampagne, in vielen Stationen konnte man lesen: „In any war between the civilized man and the savage support the civilized man. Support Israel.“ So ist das also: Die sieben Obdachlosen sind die Wilden und jene, die sie Minuten zuvor obdachlos machten, sind die Zivilisierten. Die Gedanken wirbeln weiter, wohl weil ich wie alle anderen aufs Äußerste erregt bin. Und äußerste Unruhe kurbelt wie immer meine Synapsen an. Ein Satz aus dem Talmud fällt mir ein, da heißt es: „Wenn du ein einziges Leben rettest, dann ist es, als würdest du ein ganzes Universum retten.“ Himmel, was für ein esoterisches Gestöhne, was für ein erhabenes Raunen weltferner Binsenweisheiten. Nehmen wir den folgenden Satz, hier an diesem windigen Vormittag in Um al-Kher: „Wenn ihr, Krieger, ihr Soldaten, ihr Kolonisten und Bulldozer-Inhaber, wenn ihr den winzigen, schmutziggrauen Steinverhau verschont, dann rettet ihr ein paar armen Leuten ihr winziges, schmutziggraues Zuhause.“

Aber sie retten es nicht. Die Feinde haben ihr Geschäft erledigt und ziehen sich zurück. Aber nicht ohne letzten Zwischenfall. Eid, der vermutet, dass seine Familie die nächste ist, die auf der Liste steht, rennt die paar Schritte auf den Bulldozer zu und schreit hinauf ins Führerhaus, schreit den Terminator an, fragt ihn mit sich überschlagender Stimme, was er heute Abend seinen Kindern erzählen wird, wenn sie wissen wollen, was ihr Vater tagsüber getan hat. Wird er ihnen dann erzählen, dass er die armselige Unterkunft einer palästinensischen Familie zerlegt hat? Das ist ein starker Auftritt. Bewundernswerter Eid, bewundernswerte Schlagfertigkeit. Über eine klügere Frage müsste man lange nachdenken. Ob sie den Mann trifft, der jetzt Gas gibt und abrauscht? Oder ist er schon uneinholbar für den Schmerz anderer? […]

Wer Israels Politik verstehen will, seine furchtbaren Ängste, muss hier in Yad Vashem vorbeikommen. Natürlich habe ich mich vorbereitet, aber das ist kein Ersatz: für das physische Vorhandensein an diesem Ort, an dem so unerbittlich an das Unerbittlichste erinnert wird. Der letzte Text dazu, den ich vor Tagen gelesen habe, stammte aus Haaretz. Es ging um die Einweihung einer neuen Mauerinschrift, hier auf dem 180.000 Quadratmeter großen Terrain. Von Pius XII. war die Rede, dem Papst, der sich während des Zweiten Weltkriegs eher „verhalten“ – um es milde auszudrücken – zum Hitler-Terror an den Juden geäußert hatte. Dieses „moralische Versagen“, so steht es da, ist ein alter Hut, längst historisch gesichert. Aber ein Absatz lässt in Abgründe blicken, es heißt da: „Der Mangel an klarer Führung (vonseiten der Kirche) hinterließ bei vielen (Katholiken) den Eindruck, mit Nazi-Deutschland zusammenarbeiten zu können.“ Das ist ein unbedachter Satz, ein fürchterlicher, denn er besagt nichts anderes, als dass man es Männern und Frauen ausdrücklich vorher sagen muss, dass Juden vergasen – „please, do not gas Jews!“ – und jüdische Kinder abschlachten – „please, do not slaughter Jewish children“ – nicht okay ist. Sind die Erwartungen an unsere Mitmenschen schon so gering, dass ein Massenmord erst durch eine offizielle Ansage via Kanzel als mörderischer Frevel erkannt wird? Lese ich solche Sätze, dann zittere ich tatsächlich.

Das Gelände ist wunderschön und liegt – üppig bepflanzt und elegant bebaut – auf dem „Berg des Andenkens“. Dank eines kleinen Plans finde ich das Denkmal zur Erinnerung an die Deportierten: Ein polnischer Original-Transportwaggon für Tiere, der auf einer Brücke steht. Die ins Nichts führt, da die Gleise plötzlich aufhören. Statt Vieh wurden eben Juden transportiert. Nicht first class, doch mit zwei, drei Luftlöchern, ohne Nahrung, ohne Wasser, aber mit der Möglichkeit, überall zu defäkieren. Still ist es, der Himmel strahlt, eine Brise weht, die Pinien bewegen sich leicht. Wenn ein Besucher „Glück“ hat (wie ich gerade), dann kann er, ohne von Nebengeräuschen gestört zu werden, dastehen und hinschauen. Und warten, bis das Bild bei ihm ankommt. Bis er eine winzige Ahnung bekommt von dem, was er sieht. Oder akzeptiert, dass er nichts begreift. Das so Unbegreifliche. Neben dem Platz des Warschauer Ghettos steht die Halle der Erinnerung. Mit einem Bronzekelch mittendrin, in dem eine Ewige Flamme flackert. Davor eine Steinplatte, unter der die Asche von KZ-Ermordeten begraben liegt. In den Boden sind die Namen der 22 größten Konzentrationslager eingraviert. Die Halle ist weitläufig, nicht sehr hoch, dämmrig. Es ist ruhig, nur eine Handvoll Leute, zwei unterhalten sich flüsternd. Dann kommt wieder so ein Moment, in dem ich an einen Tagebucheintrag von Max Frisch, denken muss: „Wenn Ihnen im Ausland Schweizer begegnen, sind Sie dann gern Schweizer ?“ Ich bin gerade nicht gern Deutscher, denn vier Landsleute betreten das Gebäude. Das würde überhaupt nicht stören. Auch nicht ihr Aufzug, die Hawaiihemden und die schrillen Shorts. Auch nicht ihre Stimmen. Aber ihre lauten Stimmen, die schon, aber ihr gut gelauntes Kichern, mit dem sie sich in Positur stellen, um sich – sexy vor jämmerlich Verreckten – gegenseitig abzulichten.

Geht mich das etwas an? Natürlich nicht. Doch bis auf den heutigen Tag habe ich nicht verstanden, wie man so gefühlstaub durch die Welt tapsen kann. Keiner muss hier mit seiner Ergriffenheitsvisage vorbeikommen. (Das wäre noch unerträglicher.) Doch ein Hauch von Feingefühl könnte nicht schaden. Dürfte ich, wie mir der Sinn steht: Ich würde Umerziehungslager einrichten. In dem die Herztoten – sagen wir drei Wochen lang – nur eines trainieren: spüren lernen, die Umgebung, die anderen, ja, bisweilen die Toten.

Es gibt viele Einrichtungen hier zu sehen, die einem das Fürchten und Verzagen beibringen, aber eine ist dabei, da nimmt man mit Erleichterung zur Kenntnis, dass es dort dunkel ist, dunkel genug, um sein Gesicht zu verbergen: das Denkmal für Kinder. Ein Mahnmal für die 1,5 Millionen, die während des Holocausts umkamen. Eintausendfünfhundert mal eintausend Kinder, vergast, erschlagen, zu Tode geschunden. Man kommt in eine Art unterirdischen Tunnel, in dem sich drei Kerzen und viele Spiegel befinden: um das Licht unendlich oft als „Sternenhimmel“ zu reflektieren. Und jeder Stern symbolisiert ein Kind. Man geht durch die Finsternis – die rechte Hand findet Halt an einem Geländer – und hört gleichzeitig über Band eine Stimme, die den Namen, den Ort und das Alter eines Kindes in den Raum spricht. Ein Opfer nach dem anderen, ohne Unterbrechung. Das ist genial inszeniert. Ohne Donner, ganz leicht, ganz still. Als ich den Ausgang erreiche, höre ich: „Jesin Stromwasser, Ukraine, dreizehn Jahre.“

Für den Schluss, nach drei Stunden, habe ich mir die Allee der Gerechten unter den Völkern aufgehoben. Um nicht ganz zu verzagen. Links und rechts des Gehwegs wurden Bäume für jene gepflanzt, die ihr Leben riskierten, um jüdisches Leben zu retten. Und in den Boden wurde je eine Plakette eingelassen, mit Namen und biografischen Daten. Die Liste bisher offiziell als Lebensretter Anerkannter umfasst knapp 25.000 Namen, darunter über 500 Deutsche. Wer keinen Baum bekam (Platzmangel), an den wird im nahen Garten der Gerechten unter den Völkern erinnert. Schon mickrig die Zahl der Mutigen, wenn man bedenkt, wer alles beim Denunzieren und Auslöschen vorbildlich zur Stelle war. Aber immerhin, eine Minderheit ließ sich nicht verführen. Interessante Liste: Kommunisten, Diplomaten, Katholiken, Bauern, Reiche, ein König, ein Zirkusdirektor, Industrielle, Kapos, Atheisten, Soldaten, Ex-Nazis, KZ-Häftlinge, Polizisten, Hausfrauen, arme Schlucker, Friedhofsverwalter, Taxifahrer, wunderbar intelligente Frauen und Männer, wunderbar einfache Frauen und Männer. Sie alle bewahrten sich etwas, das nicht käuflich war, nicht korrumpierbar, nie zu manipulieren: Herzensbildung. Man kann sie nur beneiden.

Auszug aus "Verdammtes Land" von Andreas Altmann

Verdammtes Land Andreas Altmann Piper 2014, 300 S., 19,99 €

Dieser Beitrag ist eine Zusammenarbeit mit dem Piper Verlag

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