Tag 1

Berlinale-Tagebuch ..

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Epilog | Mittwochabend

Abends fahre ich das zweite Mal zum Potsdamer Platz. Deshalb verliere ich nun nicht die Orientierung. Ich finde mich niemals zurecht, wenn ich dort dem U- oder S-Bahnhof entsteige. Niemand, den ich kenne, tut das. Ist das nicht beschämend? Die Stadtplaner hatten hier die Möglichkeit, alles richtig zu machen und stattdessen ist der Potsdamer Platz vermutlich das Hauptstadt-Ballungszentrum für Google-Maps- und Falkplan-Benutzer. Im Kinosaal riecht es nach Linolschnittmaterial, das ich seit der zehnten Klasse nie wieder in die Hand nehmen musste. Der Mann, neben den ich mich setze, hat ein zu scharfes Rasierwasser aufgelegt. Ich bin müde und meine Kontaktlinsen sind trübe. Immer wieder gucke ich zum Eingang, ob ich Matthias Dell sehe oder meinen Lieblingsfreund, doch keiner taucht auf: ich muss meine erste Berlinale-Vorführung alleine bestreiten, niemand ist da, dem ich aufgeregt in die Seite pieksen kann. Hinter mir schält jemand eine Mandarine – es duftet anachronistisch nach Weihnachten.


Werner Herzogs Death Row ist eine Aneinanderreihung von vier Dokumentationen über vier Fälle in Todeszellen. Als die erste Doku nach einer Dreiviertelstunde zu Ende ist, wird mir bewusst, wie lange das Ganze noch dauern würde. Jede Folge hat den gleichen Vorspann, der uns einen Todestrakt und eine Hinrichtungszelle zeigt. Darin sagt Herzog unter anderem den Satz: "Ai rispektfulli disägriiii wiss se däss päneltiii" und bis zum Schluss gewöhne ich mich nicht wirklich an seine harte Aussprache.

Ich lerne die unterschiedlichen Todeskandidaten kennen, die Dinge, von denen sie träumen, ihre Ängste, ihre Verbrechen, an welchen Orten diese stattfanden, wie und welche Leben sie lebten. Herzog beschönigt nichts, schlägt sich auf keine Seite. Ich hingegen bin in einem Fall hin und her gerissen. Niemand sieht gerne das Monster hinter einem lachenden Gesicht. Und ich wünsche niemandem den Tod. Ich rege mich schon auf, wenn in schrecklichen, amerikanischen Investigations-Serien, wie sie auf RTL gezeigt werden, Inspektoren den Hinterbliebenen von Todesopfern wie Racheengel versprechen, die Verbrecher zu fangen und sie anschließend in den Todestrakt zu bringen. Deshalb verlasse ich das Kino aufgewühlt. Mir ist dies Selbstverständnis fremd, mit dem viele Amerikaner das System "Gleiches mit Gleichem vergelten" verteidigen.

...

Gemeinsam mit dem Lieblingsfreund fahre ich am Donnerstagmorgen zum Potsdamer Platz und zwinge ihn dort, mit mir die Pressekonferenz zu besuchen, auf der die Jury vorgestellt wird. Mir ist die Jury eigentlich egal, ich will nur ein Mal Jake Gyllenhaal sehen, von mir aus auch noch Charlotte Gainsbourg.

Meinem ersten Hollywoodschauspieler begegnete ich im Herbst 1990, als ich als Au Pair in Rom gemeinsam mit meinen italienischen Freunden am Fuß der Spanischen Treppe am Brunnen saß – alle Touristen waren längst fort, die Straßenfeger hatten bereits die Treppe gereinigt – als Matt Dillon im Smoking und in Begleitung einer Dame mit glänzendem, bodenlangen Abendkleid daher spaziert kam.

Der Anblick der beiden machte mich seinerzeit handlungsunfähig. Mittlerweile bin ich natürlich nicht mehr so leicht aus der Fassung zu bringen. Deshalb stehen der Lieblingsfreund und ich irgendwo hinten im Konferenzraum herum, schwitzen wegen unserer dicken Jacken, beobachten genervt die Kameramänner, die allen immer wieder die Sicht versperren und gucken halt mal.

http://25.media.tumblr.com/tumblr_lz4u2c4sjN1qc4abzo1_500.jpgAls die Jury endlich sitzt, geht es los mit den langweiligsten Fragen der Welt („Was erwarten Sie von dieser Berlinale?“) und Jake Gyllenhaal gibt diese immer (maul)faul an irgendwen weiter und sitzt sonst die meiste Zeit mit einer Hand vor der rechten Gesichtshälfte da. Wir mutmaßen, dass er mächtig verkatert ist, dass er da aber nun dennoch sitzen muss an jener exponierter Stelle, überlegen wie sein Kopf vielleicht schmerzt und wie ihn alles nervt und das ist dann weitaus unterhaltsamer als die eigentliche Pressekonferenz. Der Kameramann neben uns fuchtelt und zischt derweil immer mal wieder die Leute an, die ihm angeblich im Weg herumstehen “Kssssss! Kssssss!” und nach zehn Minuten sind wir so gelangweilt, dass wir uns eine Tierdokumentation angucken gehen, die ich gar nicht auf meinem Plan hatte. Auch in diesem Kino riecht es nach Linolschnitt – ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen.

In Bestiaire von Denis Côté sehen wir hauptsächlich unterschiedliche Tiere eines Safariparks, die den Winter in ihren kargen Ställen verbringen müssen. Die Kamera ruht dabei so lange auf einzelnen Details der Tiere oder filmt ihnen mitten ins Gesicht, dass ich anfange, sie zu vermenschlichen. Oft verhalten sich die Tiere eigenartig, leiden unter der Enge ihrer Ställe oder Käfige. Und da die Kamera nicht ausweicht, sind wir Mitgefangene.

Als schließlich Tierpräparatoren bei der Arbeit beobachtet werden, ist für mich zum Glück genau die Zeit gekommen, das Kino zu verlassen, um Les adieux à la Reine anschauen zu gehen. Als ich vorm Saal ankomme, ist dieser bereits voll und obwohl anschließend weitere 30 Leute hineingelassen werden, bin ich nicht dabei. Dennoch warte ich noch ein bisschen. Unhöfliche, überhebliche Männer stürmen immer mal wieder geschäftig an uns, die wir brav eine Schlange bilden, vorbei – um zum Glück ebenfalls abgewiesen zu werden. Als doch noch ein paar Leute zugelassen werden, kann ich gar nicht so schnell reagieren wie mich die routinierten Profis überholen und umrempeln, so dass mir der Einlass erneut verwehrt wird.

Zwei junge Frauen haben es hinter die Absperrung, aber nicht mehr ins Kino geschafft. „Pah!“ lästern sie wie kleine, beleidigte Mädchen. „Wir wollen den Film sowieso nicht gucken. Diane Kruger, pah!“
Ein wenig haben sie ja recht. Normalerweise würde ich mir den Film auch nicht ansehen. Ich habe Diane Kruger bisher lediglich in Inglourious Basterds gesehen und wollte es eigentlich auch dabei belassen. Aber ich mag Kostümfilme und dachte, ich müsste diesen – immerhin ist es der Eröffnungsfilm – der Vollständigkeit halber anschauen. Und nun habe ich wegen nichts das Ende der seltsamen, ein wenig
verstörenden, aber auch wundervollen Tierdokumentation verpasst.

...


Für's Vorabendprogramm habe ich eine weitere Dokumentation ausgesucht: Nuclear Nation von Funahashi Atsushi zeigt die vergangenen drei Jahreszeiten jener Menschen, die in Futaba, direkt neben dem havarierten Atomkraftwerk in Fukushima, gelebt haben, deshalb in eine Schule evakuiert wurden und dort versuchen, das Kleinstadtleben aufrechtzuerhalten. Trotz all des gezeigten Leids bekomme einen anstrengenden Japansehnsuchtsschmerz.


Im Sommer dürfen die Bewohner von Futuba für zwei Stunden in ihre Heimatstadt zurückkehren, um ein paar wenige Dinge aus den Trümmern zu holen und Regisseur Atsushi nimmt uns dorthin mit. Fast alles ist verwüstet, mitten in der Landschaft liegen Schiffe. Als ich in Tokio war, ist eine der Studentinnen, bei denen ich wohnte, für drei Tage in den Norden gefahren, um Menschen beim Wiederaufbau zu helfen. Sie zeigte mir Bilder von riesigen Schiffen, die mitten auf zerfetzten Kreuzungen standen. Niemand weiß, wie man sie dort wieder weg bekommt – außer man baut sie mühsam auseinander und transportiert sie in Einzelteilen ab.

Am meisten beeindruckt mich in Atsushis Film ein Bauer, der entgegen der gesetzlichen Auflagen, seine Rinder umzubringen oder sie verhungern zu lassen, diese jeden Tag füttert. Lange hat der Bauer nach dem Sinn dieses Handelns gesucht, doch mittlerweile versteht er sich als Mahnmal gegen die Atomkraft und fühlt sich aufgrund der inneren und äußeren Verstrahlung mit seinen Rindern verbunden. Ich will nicht zu Ende denken, was wohl in ein paar Jahren mit ihnen geschehen mag.

Als die Bewohner von Futuba nach Tokio reisen, um dort zu demonstrieren, seufze ich tief. Die kleine Gruppe marschiert im Regierungsviertel umher und skandiert „Gebt uns unser Land zurück!“ obwohl alle wissen, dass die Regierung das nicht einmal könnte, wenn sie es wollte. Sie marschieren von dort bis nach Shibuya. Ich bin die Strecke im November auch zu Fuß gegangen und am Ende überqueren sie sogar die berühmte Kreuzung und ich sehe den Starbucks, in dem ich mehrere Male gesessen, kann das Fenster sehen, durch das ich nach draußen auf die Kreuzung geblickt habe.

So ist es ein Schwermut erzeugender Zufall, dass ich anschließend zum ersten Mal seither wieder in einem Starbucks sitze, um an diesem Text zu schreiben. Denn das Pressezentrum im Berlinale Palast ist längst geschlossen, schließlich sitzen dort gerade alle geladenen Gäste und gucken sich Les adieux à la Reine an. Ich hingegen trinke Chai Latte wie in Tokio und schlage die Zeit tot bis zum nächsten Film.

Kuma von Umut Dag erzählt die Geschichte der junen Ayşe, die in der Türkei an einen jungen Türken aus Österreich verheiratet wird, um mit ihm und seiner Familie nach Wien zu ziehen. Dort stellt sich für den Zuschauer heraus, dass Ayşe eigentlich auf Wunsch der todkranken Mutter des Türken als Zweitfrau für den Vater “eingeheiratet” wurde. Dass die Töchter des Hauses damit nicht damit einverstanden sind, verwundert nicht, aber dass alles ganz anders weitergeht als man zu ahnen glaubt, ist toll.

Es ist mein erster Spielfilm auf der Berlinale und es wird für die nächsten schwierig werden, an ihn heranzureichen. Wenngleich ich mir natürlich wünsche, es ginge die kommenden Tage in dieser Form weiter. Eines spüre ich jetzt schon: tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich mir so viele tolle Sachen ansehen darf.

Als ich das Kino verlasse, ist die Straße voller Limousinen. Der Eröffnungsfilm ist offenbar gerade zu Ende, also stelle ich mich der Neugier wegen an den Rand des roten Teppichs und warte ein wenig. Die erste Schauspielerin, die kommt, hat in einem der Filme mitgespielt, bei denen ich Produktionsassistin war (haha, wie aufregend) und ich merke, wie fremd mir diese Warterei ist und wie sinnlos sie mir schon jetzt erscheint.

http://24.media.tumblr.com/tumblr_lz5hshFrn31qc4abzo1_500.jpgViel interessanter hingegen finde ich die Autogrammjäger – meist sind es Männer –, die am Rand des Teppichs stehen. Zu ihren Füßen befinden sich ausgebeulte Taschen, in die sie Kladden und Fotos und Autogrammkarten gequetscht haben. Kommt ein Star aus dem Berlinale Palast, suchen sie die entsprechende Karte heraus und halten sie ihm mit der Bitte um ein Autogramm unter die Nase. Kommt jemand Elegantes vorbei, tuscheln sie und spekulieren, wer das sein könnte und ob es überhaupt jemand Bekanntes ist. Manchmal müssen sie die Schauspieler auch erst zu sich rufen. Ich schäme mich, dass ich direkt daneben stehe und nach einer halben Stunde, in der entweder Schauspieler vorbeikamen, die ich schon total oft gesehen habe oder Leute, die ich gar nicht kenne, komme ich mir ziemlich albern vor.

Lachend gehe ich mit auf dem frischen Schnee knirschenden Schritten zur Straße und winke mir ein Taxi herbei.
Was für ein wundervoller erster Tag!



Gesichtete Promis: Mike Leigh, Anton Corbijn, Asghar Farhadi, Charlotte Gainsbourg, Jake Gyllenhaal, François Ozon, Boualem Sansal, Barbara Sukowa, Sunnyi Melles, Hannelore Elsner, Florian Lukas, Henry Hübchen

Terminplaner für morgen
Kazoku no kuni von Yang Yonghi
Extremely Loud And Incredibly Close von Stephen Daldry
My Brother The Devil von Sally El Hosaini
A moi seule von Frédéric Videau
Brötzmann - Da gehört die Welt mal mir von Uli M. Schueppel

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maike Hank

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.

Maike Hank

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden