Tag 4

Berlinale-Tagebuch ..

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Heute bin fast ausgeschlafen, zudem gibt es ein Frühstück im Bett und dann fahre ich direkt mit dem Bus bis fast vors Kino, sitze im Doppeldecker oben direkt in der ersten Reihe, schaue auf die Straßen und höre währenddessen die ganze Zeit Roxy Music. Etwa vier Mal im Jahr habe ich eine Bryan-Ferry-Phase – der Film Avalon hat gestern die erste ausgelöst.

Wie wenig einschätzbar die Schlangen vor den Sälen sind: Dieses Mal bin ich eine halbe Stunde vor Filmbeginn da und bin die vierte Person, die wartet. Im Kino setze ich mich auf meinen Stammplatz. Ein Mann, der sich trotz der wenigen Menschen in der Schlange nach vorne gedrängelt hatte, stürmt sofort in die erste Reihe und besetzt den Platz in der Mitte. Immerhin hat er dort seine Ruhe. Es sieht allerdings sehr unbequem aus, wie er da so halb im Liegen rumhängt, aber vielleicht braucht er diese optische Dröhnung, die sich automatisch ergibt, wenn man direkt vor beziehungsweise unter der Leinwand sitzt.

In friends after 3.11 spricht Regisseur Iwai Shunji mit vielen unterschiedlichen Menschen über die Kastrophe in Fukushima. Und während in Nuclear Nation, den ich am Freitag gesehen habe, wenig gesprochen, dafür aber in Ruhe Bilder gezeigt wurden und man Zeit hatte, sich auf die Menschen und die Katastrophe einzulassen, werden dieses Mal fast nur die Interviewpartner gezeigt, wie sie entweder in Büros sitzen und Fragen beantworten oder mit dem Regisseur und seiner Begleitung in Katastrophengebieten umherlaufen und die ganze Zeit irgendwo hin zeigen und beinahe ohne Unterlass reden.
So bin ich hauptsächlich damit beschäftigt, die englischen Untertitel zu lesen und zu verarbeiten. Es gibt im Netzjargon eine Abkürzung, die lautet TMI. Too much Information! Eigentlich bezieht sie sich darauf, dass jemand Sachen von sich preisgibt, die man gar nicht wissen möchte. Beispielsweise, wie oft er aufs Klo geht oder wann er Sex hat. Aber auch ich würde gerade gerne in Richtung Leinwand rufen: TMI!

Zwar werden interessante Menschen interviewt – eine Aktivistin, die so jung ist, dass sie noch eine Schuluniform trägt, ein Aktivist, der in die Katastrophengebiete reist und Reden hält vor den Opfern, Filmemacher, ein Atomwissenschaftler, der nun gegen die Atomkraft kämpft, qausi als Wiedergutmachung – aber stolz die These in die Welt hinausträgt, man müsse mehr CO2 produzieren und Witze macht über die Angst vor einer Eiszeit entgegen der Angst vor schmelzenden Polkappen und schönem Wetter überall. Ja, ich freue mich, dass die Anti-Atomkraftgegner auch in Japan mehr zu werden scheinen, aber ich fühle nichts von dem, was sie umtreibt. Zwischendurch nicke ich immer wieder ganz kurz ein und obwohl ich versuche, in diesem Zustand so etwas wie Haltung zu simulieren, wache ich jedes Mal mit zurückgelehntem Kopf und offenem Mund auf. Nach etwas mehr als einer Stunde verlasse ich das Kino – interessant ist allerdings, dass dieses Powernapping tatsächlich funktioniert, denn ich bin wieder ganz wach – und setze mich ins Café, um mit dem Schreiben zu beginnen.
Ja: das mit dem offenen Mund war vermutlich auch schon TMI...

In For Ellen von So Yong Kim lernen wir den Musiker Joby kennen. Er sieht aus, wie Jungs eben so aussehen, wenn sie in Bands spielen: schwarze Klamotten, fettige Haare, abgeblätterter schwarzer Nagellack, fahle Haut. Es ist Winter und wir befinden uns in jener trostlosen Kleinstadt, in der Jobys Noch-Ehefrau mit der gemeinsamen Tochter Alice im gemeinsamen Haus lebt. Joby ist hierher gekommen wegen des Anwaltstermins für seine Scheidung. Hier stellt sich aber heraus, dass er nur dann die Hälfte des Hauses bekommen soll, wenn er auf das Sorgerecht für Ellen verzichtet – was er nicht möchte, schließlich hat er seine Frau damals sogar davon überzeugen müssen, Ellen nicht abzutreiben.

Die meiste Zeit des Films sehen wir ausschließlich Joby, wie er irgendwie die Zeit totschlägt und neben seiner Eitelkeit eine Art Grundverzweiflung in sich trägt. Auch im Dialog mit seinem Anwalt macht er nicht wirklich einen lebensfähigen Eindruck und gerade als ich ein wenig gelangweilt sein möchte, findet das erste Treffen seit Jahren zwischen Joby und seiner vielleicht sechsjährigen Tochter statt, das so wundervoll gezeichnet ist.
Da trifft der schmuddelige Musiker auf ein kleines Mädchen in bunten Kinderkleidern und er weiß überhaupt nicht, was er mit seiner Tochter anfangen soll. Er schenkt ihr noch im Auto eine Puppe und weil ihre Reaktion darauf recht verhalten ist, will er wissen, warum sie ihr nicht gefällt. Bis sich heraus stellt, dass sie die Puppe schon hat und wir gemeinsam mit Joby total erleichtert sind über diese Antwort. Gemeinsam gehen die beiden deshalb in einen Spielzeugladen, um die Puppe gegen etwas Anderes einzutauschen.
Hier sehen wir Ellen, die ganz langsam ein Regal entlang tippelt und Joby, der ihr folgt und dabei verwundert, amüsiert und überfordert zugleich ist. Die Szene geht ziemlich lang und auf einmal mag ich Joby und auch den Film.
Am Ende entscheidet sich der Musiker sich dafür, die Papiere zu untschreiben. Nicht weil er seine Tochter nicht liebt, sondern weil es das beste für sie ist. Als Joby in die Winterlandschaft davon fährt, erklingt Sorrow von The National und das passt dann wie Arsch auf Eimer. Wäre der Film zwanzig Jahre älter, wäre an dieser Stelle vermutlich irgendwas von Joy Division gelaufen.

http://29.media.tumblr.com/tumblr_lzasa2zpTO1qc4abzo1_500.jpgDanach erfahre ich, dass sich mein Wohnungsschlüssel wegen unglücklicher Zufälle außerplanmäßig am anderen Ende der Stadt befindet. Egal, wie lange ich noch am Potsdamer Platz bleibe, ich werde ihn dort irgendwann holen müssen. Mittlerweile gehen mir die vielen Menschen ein wenig auf die Nerven und wegen des Wochenendes ist es besonders voll überall. Man muss ja schließlich an so einem Filmtag ganz schön viele Strecken zurücklegen und fast immer läuft jemand vor einem her, der sich in unpraktischer Geschwindigkeit fortbewegt oder gleich einfach mitten im Weg stehen bleibt, um zu telefonieren, etwas nachzusehen oder mit jemandem zu sprechen, der ihm entgegenkommt, oder wie heute, um sich im dichten Gedränge die Nägel zu lackieren.
Aber wenigstens dort, wo die Stars ankommen, ist es immer leer, wenn ich vorbeikomme. Verlassen stehen die Leitern der Fotografen hinter der Absperrung. Die meisten sind beschriftet und vermutlich gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, dass keine heimlich verrückt werden darf.

Eine halbe Stunde lang sitze ich bereits im nächsten Kino und warte, bis Key Hole von Guy Maddin beginnt. Nach einer weiteren halben Stunde stehe ich auf und gehe, weil ich bis dahin weder die Handlung verstanden habe, noch etwas mit den Figuren anfangen kann. Ein Schwarzweißfilm, als wäre David Lynch auf LSD gewesen: In einem Haus liegt ein nackter Mann in Ketten und spricht zu Personen, die sich – vermutlich zeitversetzt – ebenfalls in dem Haus befinden. Irgendwelche Gangster - ich glaube, das Ganze soll in den Vierziger Jahren spielen – sowie eine verregnete Frau, eine ausschließlich Französich sprechende Frau in Unterwäsche, auf die Pimmel gemalt sind, ein Entführter, der geknebelt und an einen Stuhl gefesselt dasitzt und Fratzen zieht, eine den Boden schrubbende Frau, die, so glaube ich, aus dem Hintern schießt, samt Putzeimer inklusive sich darin befindendem sich im Kreis drehenden Putzschaum als wiederkehrendes Thema. Hilfe!

Als ich beim Lieblingsfreund am Tisch sitze, um meinen Schlüssel abzuholen, bin ich ganz neidisch während er mir erzählt, dass er stattdessen heute den neuen Muppetsfilm geschaut hat und wie toll dieser war, und dass es dort sogar noch einen Toy Story-Vorfilm gab. Ach.

Gesichtete Promis: keine

Terminplaner für morgen:
(L'enfant d' en haut von Ursula Meier)
Jayne Mansfield's Car von Billy Bob Thornton
Joven & Alocada von Marialy Rivas
Young adult von Jason Reitman

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Geschrieben von

Maike Hank

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.

Maike Hank

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