#blacklivesmatter

Berlinale-Tagebuch "Selma" erzählt auf großartige Weise Geschichte von vor 50 Jahren - und ist leider schrecklich aktuell

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Der Höhepunkt im Kampf für Wahlrechte nach dem Civil Rights Act von 1964: Die Märsche von Selma nach Montgomery
Der Höhepunkt im Kampf für Wahlrechte nach dem Civil Rights Act von 1964: Die Märsche von Selma nach Montgomery

Foto: William Lovelace/Getty Images

I'm just a girl! Dies hier ist ein Nutzerinnenbeitrag.

U-Bahn-Schaden, halbtags gearbeitet, unmoralisch bei McDonald'S gegessen, ein Drittel des Festivalbeitrags Body verschlafen.

Jedoch: alles, was heute im Laufe des Tages geschah, ist unwichtig, denn abends schaue ich mir Selma an.

Der Film erzählt jene Zeit aus Martin Luther Kings Leben nach, die dazu führte, dass Präsident Johnson 1965 den Voting Rights Act unterschrieb, der Schwarzen Menschen das Wählen ermöglicht. Zwar war dies schon vorher theoretisch möglich, wurde aber im Süden der USA nach wie vor unterbunden.

Die Aktivist_innen um King suchen sich deshalb die Stadt Selma in Alabama aus, um dort mit Hilfe eines gewaltfreien Marsches in die Hauptstadt des Bundestaates für das Wahlrecht zu demonstrieren. Die lokale Polizei übt brutale Gewalt aus und es ist wirklich krass, wie sehr es Regisseurin Ava DuVernay gelingt, emotionale Nähe zu den Geschehnissen herzustellen.

Hinzu kommt, dass all diese Bilder nicht weit weg sind. Es ist nicht so, als blickte man in Selma auf eine Vergangenheit, die längst überholt ist.

King stellt seine Forderungen an Präsident Johnson mit der Begründung, dass Schwarze Menschen nur dann frei seien, wenn sie wählen und mitbestimmen könnten. Denn noch sprächen ausschließlich weiße Recht über Schwarze Menschen. Ich denke unweigerlich an Ferguson, wo eine weiße Jury beschlossen hat, dass ein weißer Polizist erst gar nicht vor Gericht muss, obwohl er 'versehentlich' den Schwarzen Jungen Michael Brown erschossen hat. Ich denke an Eric Garner, der von Polizisten erstickt wurde, weil diese ihn grundlos einer Straftat verdächtigten, brutal durchsuchten und ignorierten, dass Garner währenddessen ständig "I can't breathe" hervorbrachte. (#blacklivesmatter ist deshalb zu einem wichtigen aktivistischen Hashtag geworden.)

Als im Film während des ersten Protestmarsches die Menschen brutal niedergeknüppelt werden und weiße Bürgerinnen und Bürger applaudierend am Rand stehen, denke ich sogar kurz an die Ausschreitungen in Rostock Lichtenhagen. Und ich denke an die widerlichen Menschen, die nach dem Mord an Eric Garner 'I can breathe'-Shirts trugen. Ich bin so voller Verachtung und Verzweiflung ob der Bösartigkeit und fehlenden Empathie, ob dem Hass und der Gewalt, die offenbar niemals verschwinden.

So wirkt das vermeintliche Happy End im Film dann auch schal - was keineswegs an der Qualität von Selma liegt, denn der Film ist wirklich gut.

*

Nun bin ich weiß und lebe in Europa. Umso dankbarer bin ich für einen Beitrag der Schwarzen Autorin Kara Brown auf Jezebel, die zur Darstellung des ersten Marsches sagt:

"I can say with complete certainty that DuVernay's depiction of this event was the most upsetting thing I have ever seen in a film."

Sie denkt ebenfalls an die aktuellen Vorfälle in den USA - und dass es sie in Selma hätte sein können, wenn sie damals gelebt hätte.

Ich habe mich ja gefragt, ob so ein Film weiße rassistische Menschen davon überzeugen könnte, dass sie falsch liegen. Ich wünsche mir das, glaube aber, dass das leider nicht funktioniert.

Kara Brown ist das mittlerweile völlig egal. Sie schreibt, dass ein Jahr nach 12 Years a Slave dieser Film nicht jene von ihr erhofften positiven Auswirkungen hatte. Selma nun erinnert sie daran, dass King sich in erster Linie für Schwarze Menschen eingesetzt hat, dass sie es sind, die bei dem Aktivismus von Schwarzen Menschen im Mittelpunkt stehen.

"So I've moved beyond this idea of films like Selma being opportunities or tools to elicit compassion from white people or to help the uniformed understand the dark history of this country and how they are tied to it whether they like it or not. Frankly, I don't care anymore. The question that I now ask myself about Selma is: How does this story speak to me? How does this help other black Americans and any other group of people who have been faced with injustice and violence in this country?

I know my history. I knew about the Selma marches. But I walked away from the film not with more respect for those who marched, but with a different kind of respect, rooted in deeper feelings of understanding and solidarity.

Even more than that, Selma angered me. It helped me to remember that people don't just get over being treated like that, nor do they have to."

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Selma war bei den letzten Golden Globes in allen Hauptkategorieren nominiert - hat aber lediglich einen Preis für die beste Musik gewonnen. Was wird wohl bei der Oscar-Verleihung passieren? 12 Years a Slave erhielt da letztes Jahr drei Auszeichungen (Bester Film, Beste Nebendarstellerin, Bestes adaptiertes Drehbuch). Doch wieder einmal steht die Oscar-Jury - zurecht - in der Kritik, zu weiß zu sein. Nachzulesen zum Beispiel auf Twitter unter #OscarsSoWhite

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Der deutsche Kinstart für Selma ist am 19. Februar.

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Geschrieben von

Maike Hank

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.

Maike Hank

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