Der perfekte Tag

64. Berlinale Trotz nur fünf Stunden Schlaf und sehr vielen Stationen in der Planung fühlte sich heute dennoch alles an wie für mich gemacht

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Not der Amateurin mit Telefonkamera: Entweder Halbglatzen und Strubbelhaar groß im Vordergrund oder sehr viel Berlinale-Plakat im oberen Teil des Bildes
Die Not der Amateurin mit Telefonkamera: Entweder Halbglatzen und Strubbelhaar groß im Vordergrund oder sehr viel Berlinale-Plakat im oberen Teil des Bildes

Foto: Maike Hank

Die professionellen Profi-Profis gehen ja ab heute in jene Vorführungen der Wettbewerbsfilme, die schon ab dem frühen Morgen im Berlinale Palast gezeigt werden. Davor holen sie sich bereits die Tickets für den nächsten Tag und müssen sich nicht mit dem begnügen, was übrig bleibt.

Ich habe zwar ähnliche Vorsätze, scheitere aber an zu wenig Schlaf, an meinem niedrigen Blutdruck, den flauschigen Katzen, die morgens auf meinem Bauch liegen und der plötzlichen Eingebung, dass das alles ja gar nicht so wichtig ist. (Ich fühle mich damit sehr geerdet.) Umso wundervoller also, dass ich auch noch um viertel vor elf die vier Wunsch-Tickets für morgen bekomme – der freundliche Mann hinterm Counter sagt lachend Jackpot! – und anschließend einen Platz in Love is Strange von Ira Sachs.

Ein ruhiger Film, der von Ben und George erzählt, die nach 39 Jahren Beziehung heiraten, weil es endlich möglich ist. Leider verstößt dies gegen die Regeln der katholischen Schule, an der George als Musiklehrer arbeitet. Er wird entlassen und verliert auch seine Krankenversicherung. Die beiden müssen ihre New Yorker Wohnung verkaufen und getrennt voneinander bei Famlienmitgliedern unterkommen, was für alle auf Dauer sehr anstrengend ist. Erst nach einer Weile wird mir klar, dass Ben und George tatsächlich von zwei Schauspielern verkörpert werden, die mir besonders als Bösewichte in Erinnung geblieben sind: Alfred Molina in Spiderman 2 und John Lithgow als bester Gegenspieler, den Dexter Morgan je hatte.

Love is strange stellt eher Beziehungsprobleme als solche in den Vordergrund, als den Fokus auf die Homosexualität der beiden Hauptfiguren zu legen. Dennoch legt der Film offen, dass selbst in einem gebildeten, aufgeklärten und herzlichen Umfeld Homophobie existiert. Zum Beispiel, als Bens Neffe, gay als Schimpfwort verwendet, damit aber eigentlich 'scheiße' oder 'blöd' meint. Ich erinnere mich beschämt an zum Glück längst vergangene Zeiten, in denen ich mich ebenfalls dergestalt äußerte und einen schwulen Arbeitskollegen nach dessen Beschwerde bat, das doch voneinander zu trennen, ich meinte das schließlich anders. Als käme es bei Diskriminierungen darauf an, wie etwas gemeint sei. Love is strange ist ein zärtlicher, mir manchmal aber etwas zu langsatmiger Film. Den Titel unterschreibe ich aber sofort.

Der Bechdel-Test

1. Kommen im Film mindestens zwei Frauen (mit Namen) vor?
Ja. Bens Familienmitglieder Kate (dargestellt von der tollen Marisa Tomei) und Mindy.

2. Sprechen im Film mindstens zwei Frauen miteinander?
Ja.

3. Geht es in diesem Gespräch / diesen Gesprächen um (mindestens) ein anderes Thema als Männer?
Ja. Kate und Mindy unterhalten sich am Telefon kurz über Mindys Therapie – und dann über Kates Probleme mit Ben.

*

Danach bin ich mit The Midnight After von Fruit Chan in einer kontaonesischen Trash-Pop-Dystopie gelandet. Mehrere, sehr unterschiedliche Leute, fahren mit dem öffentlichen Minibus in einen Vorort – und plötzlich sind alle anderen Menschen um sie herum verschwunden. Ein immer wiederkehrender Topos: unter anderem in Die Wand von Marlene Haushofer, Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic, im Film I am Legend mit Will Smith. Dieses Mal trifft es immerhin eine Gruppe von Leuten – vieles erinnert mich an die nicht sehr erfolgreichen TV-Serie Persons Unknown.

Kurz nachdem die Figuren in The Midnight After gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt, fällt der in zu vielen Horrofilmen gesagte Meta-Satz: "Und wie in irgendwelchen Horrorfilmen werden wir nun bestimmt alle nacheinander sterben." So ganz unrecht hat die Person, die sich so äußert, wie immer nicht. Nach und nach werden Einige von einem Virus befallen. Sie platzen, verbrennen, zerbröseln – und das sagt dann auch schon ziemlich viel über die Art des Films aus. (Ich muss an die legendären Zombies im Kaufhaus denken.)

Während ich zwischendurch amüsiert bin, sind mir auch immer wieder Szenen unangenehm . Zum Beispiel als einer der Jungs ein Mädchen vergewaltigt und damit sogar nicht mal aufhört, als das Mädchen längst gestorben ist. Das Ganze wird aus Sicht des Jungen in einer Rückblende erzählt. Der verrückten Inszenierung wegen findet die Vergewaltigungsszene dann auf einmal in jenem Diner statt, in dem alle die meiste Zeit herumsitzen und nun mit offenen Mündern dabei zusehen. Dass sie später nacheinander den Vergewaltiger mit einem Messer erstechen, macht es nicht besser.

Zum Glück spielt wenigstens ein tolles Musikstück eine tragende Rolle: Irgendjemand nimmt nämlich per Morsezeichen mit den Gestrandeten Kontakt auf und bald stellt sich heraus, dass die so übermittelten Worte gar keine echte Nachricht sind, sondern lediglich Liedzeilen aus Bowies Space Oddity. Zu dem Stück gibt es eine wunderschöne, skurrille Performance aller Beteiligten und das Lied wird auch später immer wieder eingespielt und versöhnt mich wenigstens ein bisschen mit den schlimmen Sequenzen.

Der Bechdel-Test

1. Kommen im Film mindestens zwei Frauen (mit Namen) vor?
Ja. Sogar noch mehr.

2. Sprechen im Film mindstens zwei Frauen miteinander?
Nein. Nur in der Gruppe mit anderen.

*

Danach setze ich mich in Maximilian Erlenweins Stereo mit Jürgen Vogel und Moritz Bleibtreu. Weniger aus richtigem Interesse, sondern um gegebenenfalls ein wenig zu schlafen. Ich mache kein Auge zu, denn der Film ist der bisher mein bestern und ich wünschte, ich hätte ihn schauen können, ohne die beiden schon in so vielen anderen Rollen immer ein bisschen mitzusehen.

Jürgen Vogel spielt Erik, der auf dem Land eine Motorradwerkstatt und eine Freundin hat, mit deren Tochter er sogar auf dem Spielplatz rumhängt. Alles ist idyllisch, bis Erik ständig von Henry verfolgt wird, den jedoch nur er sehen kann. Im Gegensatz zu Erik verhält sich Henry respektlos gegenüber Frauen, ist vulgär und auf Krawall aus. Was es mit Henry auf sich hat, wird erst im Laufe des Films klar, und selbst dann weiß ich längst nicht, wem ich letztendlich mein Mitgefühl schenken soll. Ich bin hellwach und das ohne einen Augenblick geschlafen zu haben.

Der Bechdel-Test

1. Kommen im Film mindestens zwei Frauen (mit Namen) vor?
Nein.

*

Meine Müdigkeit beherrscht mich erst während The Turning – eine Umsetzung von Kurzgeschichten des Autors Tim Winston. Sie wurden von vielen unterschiedlichen Regisseur_innen inszeniert und einfach aneinander gereiht. Ich habe wirklich keine Energie, mich drei Stunden lang immer und immer wieder auf neue Figuren und Geschichten einzulassen und nicke ständig ein. Nach 45 Minuten verlasse ich den Kinosaal und schlendere ziellos umher. Wieso gibt es hier eigentlich kein Kapselhotel?

*

Als ich den Innenhof des Sony Centers betrete, beginnt dort auf der Leinwand gerade die Pressekonferen zu American Hustle. Leider ohne Jennifer Lawrence, aber mit Bradley Cooper und Christian Bale. Ich eile hinüber ins Hyatt, um den Schauspielern und Regisseur David O. Russell nicht nur als Projektion zuzuhören. Gegen Ende habe ich glasige Augen, weil alle sehr herzlich sind und der Fokus so sehr auf den Menschen, ihren Eigenarten und ihrer generellen Schönheit liegt. Russell erzählt zudem recht offen von privaten Problemen – zum Beispiel von seinem bipolaren Sohn, fehlender Energie – und erhält Applaus für die berührende Art wie er darüber spricht, was in so einer Pressekonferenz auch eher selten vorkommt. Er beantwortet auch die Frage, warum er so gerne Menschen 'verunstaltet' und gegen den Strich besetzt: weil man sie nicht sofort erkennt. Er greift hier meinen Gedanken zu Jürgen Vogel und Moritz Bleibtreu auf, die ich nie mehr losgelöst von sich selbst sehen kann. Und ohnehin geht mir diese "Wie war das für Sie, als Sie in der Rolle so hässlich/anders aussahen"-Fragerei auf die Nerven. Selbst ich verkleide mich gerne. And it's their fucking job (den Sie lieben). Leider gibt es die Pressekonferenz noch nicht online.

*

Die zwei Stunden bis zum letzten Film des Abends verbringe ich mit Schreiben und dem Genuss von zwei Whiskey Sour. Der heutigeTFilmtag endet mit Nightflight des Koreanischen Regeisseur LeeSong Hee-il, von dem ich bereits letztes Jahr den Film White Night gesehen habe, der ebenfalls Homosexualität und Brutalität zum Thema hatte. Dieses Mal liegt der Fokus auf Mobbing in der Schule. Ich mag die ruhige Erzählweise des Films, wenngleich ich die Szenen des schulischen Psychoterrors nur schlecht ertrage. Leider bin ich so müde, dass ich gefühlt eine Stunde des 144 Minuten langen Films verschlafe. Ich wache auf, als die Hauptfigur während einer angedeuteten Vergewaltigung gefilmt wird und danach die Brutalität in der Schule eskaliert. Es passt zum perfekten Tag, dass ich fast die Hälfte des Films nicht mitbekommen habe und nicht mit gar so vielen schrecklichen Bildern im Kopf den Heimweg antreten kann. Ich muss auch nur zwei Minuten auf die U2 warten.

Der Bechdel-Test

1. Kommen im Film mindestens zwei Frauen (mit Namen) vor?
Nein.

Postscriptum

Bevor der vierte Film anfing, tauchte in der Reihe vor mir eine junge Frau auf, die ihr Presse-Badge verloren hatte. Nur noch das Band hing um ihren Hals. Ich selbst habe meines – aufgrund von unverhältnismäßiger Verlustparanoia an den Riemen meiner Tasche geknotet – und versenke das Badge nach jedem Vorzeigen immer wieder sorgsam in der Tasche. Die Frau blickte suchend auch kurz in meine Richtung und war längst wieder fort, als ich auf dem Boden herumkroch und mit der Taschenlampenapp des Telefons versuchte, auch noch in die letzte dunkle Ecke unter meinem Sitz zu leuchten. Gaaaanz hinten, fast unter einer Metall-Leiste verborgen, lag dann tatsächlich das Badge. Es war mehr als absurd. Eigentlich wäre es dort für immer verloren gewesen. Ich brachte das Badge strahlend zu den Verantwortlichen am Einlass, und es ist eine seltame Erfahrung, es der Frau nicht selbst überreichen zu können, sondern für immer die anonyme Findern zu bleiben. Karma sei mit mir.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maike Hank

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.

Maike Hank

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden