Ich will fliegen!

Kurzgeschichte Es war nicht so, dass Inox sich gar nicht mit Menschen verstand, aber in Anwesenheit von Insekten fühlte er sich wohler und in ihnen irrte er sich seltener

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Inox wurde Ende der sechziger Jahre in Ostfriesland geboren, wo er mit seinen Eltern am Rand einer Kleinstadt lebte. Der Vater hatte der Mutter erlaubt, arbeiten zu gehen und so waren beide berufstätig. Inox besuchte vormittags den Kindergarten, wo er sich am liebsten alleine Was-Ist-Was-Bücher ansah und ansonsten passte Frau Ziegler, die Vermieterin aus dem Erdgeschoss, auf ihn auf. Bei ihr saß er immer recht ungeduldig am Küchentisch und guckte sehnsüchtig aus dem Fenster. Statt Limonade bekam er von Frau Ziegler meist nur Wasser, in das des Geschmacks wegen ein Löffel Zucker gegeben wurde und oft kochte sie Haferflockensuppe, die Herr Ziegler bereitwillig in sich hineinlöffelte; Inox hingegen erbrach sich jedes Mal in seinen noch vollen Teller, so dass die Vermieterin manchmal eine wesentlich teurere Kartoffelsuppe für ihn zubereitete. Ab und an las sie ihm auch aus einem dicken Wilhelm-Busch-Buch vor. Am liebsten mochte Inox das Max- und Moritz-Kapitel mit den Maikäfern.

Die meiste Zeit verbrachte Inox jedoch draußen, weil er ständig weglief. Die Straße, in der er wohnte, führte direkt in den nahegelegenen Wald, wo in einem selbstgebauten Holzhaus der bärtige Rufus lebte, welcher heimatlose Tiere beherbergte. Schon von weitem konnte Inox die Hunde bellen hören, die Rufus in großen Käfigen hielt und je näher Inox dem Haus kam, desto mehr Katzen kreuzten seinen Weg. Manche warfen sich vor ihm auf den Boden, um sich kraulen zu lassen.

Rufus und Inox sprachen wenig miteinander. Sie kommunizierten hauptsächlich, indem sie sich gemeinsam um jene Tiere kümmerten, die man Rufus gebracht hatte oder die dieser auf seinen Spaziergängen im Wald verletzt fand. Aber wenn es notwendig war, bekam Inox Dinge von Rufus ausführlich erklärt.
An einem besonders schwierigen Haferflockensuppentag nahm Rufus ihn bei der Hand und zeigte ihm einen Ameisenhaufen, der zehn Minuten vom Holzhaus entfernt zwischen allerlei Wurzeln auf dem Waldboden thronte und erzählte ihm vom Leben der Ameisen. Danach besuchten die beiden die Tiere jeden Tag, bis Inox alles über sie wusste.
Inox saß von da an meist stundenlang vor dem Haufen, oft legte er sich direkt neben ihn und beobachtete die Tiere dabei, wie sie sich verständigten oder Baumaterial und Nahrung transportierten. Er lag manchmal so lange dort, dass die Ameisen über ihn hinweg marschierten als sei er ein Teil des Waldes geworden.

An diesem Ort entdeckte Inox nach und nach weitere Insekten, schärfte seinen Blick für jene Tiere, die von den meisten Menschen übersehen werden; sei es aus Flüchtigkeit oder aus Selbstschutz, denn Insekten lösen oft Unbehagen aus. Viele Menschen ekeln sich vor ihnen, fangen gar an zu schreien, wenn sie ihnen begegnen und im Gegensatz zu niedlichen Hunden, Katzen oder Häschen, kann man Insekten weder streicheln, noch mit ihnen schmusen. Sie sind zu filigran und besitzen zu viele Beine, die sich zu schnell bewegen.

Es fällt den meisten Menschen auch leichter, sich die Welt aus der Sicht einer Katze vorzustellen als aus der eines Borkenkäfers. Ein Hund kann Zuneigung und Gefühle zeigen, aber wer weiß schon, ob sich Grashüpfer freuen können? Hühüpf! jubeln diese ja nur in Zeichentrickserien. Bei Inox verhielt es sich damals schon anders. Er konnte fühlen, ob es den Ameisen gut ging, wann sie sich in Aufruhr befanden, und je länger er sich mit ihnen beschäftigte, desto feinere Stimmungsschwankungen konnte er wahrnehmen.

Als Erwachsener bereiste Inox die Welt. Hauptsächlich, um ihm noch unbekannte Insekten zu finden und sie zu erforschen. Im Gegensatz zu Wissenschaftlern, die die Tiere analytisch und unter Mikroskopen beobachteten, nahm sich Inox für alle Insekten sehr viel Zeit. Er saß einfach da, schaute ihnen zu und horchte in sie heinein. Es war nicht so, dass er sich gar nicht mit Menschen verstand, aber in Anwesenheit von Insekten fühlte er sich wohler und in ihnen irrte er sich seltener.

Er hatte aber in Zusammenarbeit mit den Tieren viele wunderbare Dinge erfunden, die den Menschen nützlich waren. Beispielsweise konnte man aus den hellen Rückenpanzern der Labskauskäfer, die diese im wöchentlichen Rhythmus abwarfen, günstige Zahnfüllungen herstellen, die zudem robuster waren als jene aus Kunststoff, die neuerdings alle haben wollten. Das Krabbeln hektischer Rauhbeinfüßler konnte mittels eines verdrahteten Bodens problemlos in Ökostrom umgewandelt werden und lauschte man mehrere Stunden lang liebevoll balzenden Rebengrillen, hatte dies eine antidepressive Wirkung. Die meisten dieser Grillen fand man im Rheingau, weshalb Inox in Wiesbaden das erste Rebengrillen-Sanatorium errichtet hatte. Denn bei der Therapie war es nicht nur wichtig, das Geräusch des Werbens wahrzunehmen, sondern auch den Schwingungen ausgesetzt zu sein, die dabei freigesetzt wurden. Deshalb befanden sich die Behandlungsliegen in einem Gang, auf dessen einer Seite sich männliche und auf der anderen Seite weibliche Rebengrillen befanden, die ständig miteinander kommunizierten. Zum Glück waren die Rebengrillen immer sehr bestrebt, sich zu paaren.

“Ich will hier nicht mehr sein!” jammerte ein dicker Junge mit rotem Haar, der auf der hintersten Behandlungsliege herumzappelte. Seine verzweifelt aussehende Mutter saß auf dem Stuhl neben ihm und hielt seine linke Hand, die sie zärtlich streichelte. “Mein Hase, es ist doch nur zu deinem Besten, damit du bald wieder lachen kannst.”
“Ich will nicht lachen. Ich will fliegen!” motzte er so laut, dass die anderen Patienten ihn böse anblickten und manche von ihnen sogar ungehaltene Pssst!-Geräusche machten. Dabei bewegte er ungelenk seine Arme auf und ab. Die Mutter schloss erschöpft die Augen. “Berti, Menschen können nicht fliegen.”
“Ich kann ja nicht mal mehr richtig gehen!” maulte Berti und trommelte mit beiden Fäusten auf seinem rechten Bein herum. Vor drei Jahren hatte ihn ein Auto angefahren. Seither war das Bein steif und er hatte ‘psychische Probleme’, wie seine Mutter es nannte, wenn sie mit ihren Freundinnen über ihn sprach. “ICH WILL FLIEGEN!” schrie er erneut. Bertis Mutter sprang auf und lief weinend aus dem Saal.

Inox setzte sich auf den freigewordenen Stuhl und guckte Berti neugierig an. Dieser zuckte zusammen und hörte auf zu schreien. “Ich will doch nur fliegen…” wiederholte er seinen Wunsch ganz leise und verstummte. Inox blieb noch eine Weile wortlos neben Berti sitzen. Dann erhob er sich und strich sich mehrfach über seine Glatze. “Steh auf!” sagte er, nahm Berti bei der Hand und ging mit ihm ins Arbeitszimmer. Es war vollgestellt mit unterschiedlich großen Terrarien, in denen allerlei Getier umherwuselte.
Inox nahm den Besucherstuhl, der vor seinem Schreibtisch stand, und schob ihn in die Mitte des Raumes. “Stell dich mal da drauf.” sagte er leise und als Berti aufgrund seines Gewichts und des steifen Beins Schwierigkeiten hatte, den Stuhl zu erklimmen, hievte Inox ihn mühelos nach oben. Die beiden waren nun gleich groß.

Inox holte ein Maßband, hielt dieses an Bertis Rumpf, Arme und Beine und machte sich immer wieder Notizen. Währenddessen hörte man nur das Rascheln und Brummen der Insekten, die sich in den Terrarien bewegten. Berti guckte ängstlich zu ihnen hinüber. Er fürchtete sich schon vor winzigen Ameisen, hoffentlich konnten all diese Käfer, Krabbler, Raupen und Kakerlaken ihre Glaskästen nicht verlassen. Er schloss die Augen und wiederholte flüsternd immer wieder den Satz “Heile, heile Gänschen. Es ist bald wieder gut.” weil ihm nichts besseres einfiel und seine Mutter ihm das Lied früher immer vorgesungen hatte, wenn er weinen musste.
Bertis Gesicht war vor lauter Anspannung schon ganz rot, als Inox “Fertig.” sagte und ihn vom Stuhl hob. “Sei nächste Woche unbedingt zu deinem Termin da. Hörst du?” Berti nickte und humpelte aus dem Arbeitszimmer hinaus in die Arme seiner betrübten Mutter, die vor fünf Minuten endlich auch für sich eine Rebengrillentherapie beantragt hatte.

Eine Woche später stand Berti pünktlich in der Eingangshalle des Sanatoriums, setzte sich auf die Bank neben der Anmeldung und wartete auf Inox, den er schon von weitem aus dem Behandlungstrakt kommen sah. Inox zog einen kleinen Wagen hinter sich her, auf dem irgendetwas aus einem silbernen weichen Material lag. “Heute wird nicht herumgelegen.” sagte er. “Wir gehen nach draußen.” und machte sich auf den Weg in den Garten, der sich an der Rückseite des Sanatoriums befand. Berti folgte Inox und bestaunte die sonderbare Fracht, die dieser hinter sich her zog. Durch ein morsches Tor betraten sie einen Feldweg, gingen ein paar Minuten, bis Inox stehen blieb.
“So.” sagte er, nahm das silberne Etwas und hielt es Berti vor den Leib. “Zieh das mal an.”
Es war ein Overall und Berti kletterte umständlich hinein. Inox zog den Reißverschluss zu, der sich am Rücken des Anzugs befand, griff zu einem farblosen Seil, das noch auf dem Wagen lag und befestigte dies mit Hilfe eines Karabinerhakens an Bertis Bauch. “Du wirst jetzt fliegen.” sagte Inox, und nahm eine Kartusche mit trichterförmigem Aufsatz zur Hand. “Ich gebe jetzt ein wenig Barbarella zwischen die zwei Schichten deines Anzugs, das dort sofort verdampft.”
Bertis Gesicht war schon wieder ganz rot. Er hatte gar keine Zeit gehabt, sich vorzubereiten. Einen Flug musste man doch von langer Hand planen, so etwas konnte man doch nicht einfach so machen. Schon hob er ein wenig vom Boden ab.
“Huuuuuuuuuuu!” rief Berti ängstlich. “In deinem Anzug befinden sich schwarze Imeisen, die ich vor zwei Jahren in Vietnam entdeckte und nach Europa schmuggelte. Inhalieren sie das Barbarella, wandeln sie es in Filium um. Filium ist toll, denn es ist viel leichter als Luft und deshalb kannst du jetzt fliegen.” Die letzten Worte musste Inox sehr laut rufen, damit Berti ihn noch hören konnte. “Huuuuuuuu!” rief dieser immer wieder. “Huuuuuu!”, während Inox das Seil festhielt, an dem Berti hing. Aus zehn Metern Höhe konnte er sehen, wie seine Mutter mit wehendem Rock das Gartentor passierte und zu ihm hinauf starrte. “Heile, heile Gänschen.” sagte Berti, lächelte zaghaft und der Anzug schimmerte im Sonnenlicht. “Ich lasse jetzt los.” rief Inox.


Diesen Text schrieb ich für das schwerwiegende Werk 63,75, das am 2. November bei Stijlroyal erschienen ist. In diesem Buch haben viele wundervolle Menschen – unter anderen Sibylle Berg, Alexandra Tobor, Nilz Bokelberg – Geschichten zu Orten und Persönlichkeiten aus Wiesbaden erfunden. Meine ist die über den Künstler Inox Kapell.

63,75 - Das Buch
208 Seiten, DIN A3, 1,5kg, 39,90 €

63 Autoren erzählen von über 75 Orten, Objekten und Sachverhalten in Wiesbaden, die sie nur auf einem Foto gesehen haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maike Hank

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.

Maike Hank

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