In einem Loft auf einem ehemaligen Fabrikgelände im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg – angeblich dem Schanzenviertel der Zukunft – wohnt Marco Antonio Reyes Loredo. Schon seit ein paar Tagen schläft er jedoch im Hotel, denn seine Wohnung wurde wieder einmal zum Fernsehstudio. An mehreren Abenden hintereinander empfängt er vor einem kleinen Publikum einen musikalischen Gast sowie einen Künstler, der das Loft temporär umgestaltet. Mario selbst moderiert, führt Interviews mit seinen Gästen und vor allem bekocht er das Publikum, das bereits in der Sendung essen darf.
Die Konspirativen KüchenKonzerte wurden 2009 ohne Geld und ohne Erfahrung ins Leben gerufen, um dem Niedergang des Musikfernsehens etwas entgegenzusetzen, und wo könnte man bessere Gespräche führen als in der Küche? Das Konzept ging auf: Die Sendung war 2010 für den Grimme-Preis nominiert und gewann im gleichen Jahr den Sophie-Medienpreis. War die erste Staffel lediglich auf Regionalsendern und im Internet zu sehen, so scheint nun der erste Sprung geschafft, denn die nächsten Folgen werden auf ZDF Kultur ausgestrahlt.
Stimmung ohne Einpeitscher
Heute wird Johanna Zeul, eine deutsche Liedermacherin, im Loft aufspielen, und der Künstler Baldur Burwitz soll währenddessen den Raum verändern. Bereits im Hof werden Getränke ausgegeben und auf Bierbänken könnte man es sich gemütlich machen, wenn es nicht so kalt wäre. Die Stimmung ist dennoch gut, überall gibt es lachende Menschen, wuseln Leute von der Produktion hin und her. Vor dem Gebäude steht ein Container, in dem sich die Technik befindet. Ich darf kurz hineinlugen und stolz bekomme ich erzählt, dass man sich bei der vorherigen Staffel noch mit jenem Gefährt zufrieden geben musste, welches weiter hinten auf dem Gelände steht, und mich an den Spielbus erinnert, mit dem in meiner Kindheit Sozialpädagogen unser Dorf besuchten, um uns Sachen wie Kerzenziehen und Töpfern beizubringen. Schon alleine deshalb freue ich mich für die Techniker.
Als endlich Einlass ist, werden wir auf einer Bank in der hintersten Reihe platziert. So müssen wir nicht mit durchgedrückten Rücken dasitzen, sondern können uns gemütlich an die vollen Bücherregale hinter uns lehnen. Marco hat eine Vorliebe für Stadtführer (Berlin), Wörterbücher (die gesamte Duden-Reihe), Kunst (Banksy), Musik (Band-Interviews) und selbstverständlich Kochbücher. Links im Raum befindet sich die offene Küche und ganz vorne eine Bühne, auf der mehrere Holzkisten stehen. Den bei Aufzeichnungen von Unterhaltungssendungen üblichen Einpeitscher, der das Publikum bereits in Wallung bringt, gibt es hier nicht, lediglich ein paar Anweisungen und schon steht Johanna Zeul auf der Bühne und singt.
Anschließend betritt der Moderator die Szenerie. Ich bin schlecht vorbereitet und deshalb verwundert, dass es sich hierbei nicht um jenen Mann im Anzug handelt, der draußen mit Headset, gepuderter Haut und einem leicht blasierten Gesichtsausdruck umherstand. Marco hingegen ist eher ein sympathischer Nerd und trägt dementsprechend auch ein T-Shirt mit einem Aufruck, den nur Eingeweihte verstehen: die Worte Heavy Paper in einer Art Iron-Maiden-Schrift. Er begrüßt seine Gäste – der Mann im Anzug ist Baldur Burwitz und die Holzkisten sind Teil seiner Raumperformance –, stellt ihnen ein paar Fragen und beginnt alsbald zu kochen, während Johanna Zeul um ihr Leben spielt.
Auf einen Salatgurken-Aperitif
Selbst wenn man ihre Musik nicht mag, so muss man eingestehen, dass sie eine Rampensau ist, der es formidabel gelingt, das Publikum sogar zum Mitsingen sonderbarer Geräuschabfolgen zu verführen. Wir bekommen währenddessen einen Salatgurken-Aperitif und Gazpacho gereicht.
Es fallen schon mal Sätze wie: "So, hier käme die MAZ und danach würde Johanna mit einem neuen Titel kommen" – was im Einspieler zu sehen ist, werde ich erst erfahren, wenn ich die Sendung anschaue. Ebenso verhält es sich mit dem Künstler-Interview sowie der Kocherei, die außerhalb meines Sichtfelds stattfindet. Ich kann nur erkennen, wie Marco seinen Holzlöffel beschwingt an einer Halterung festklemmt, bevor er wieder moderiert und fragt.
Irgendwann wird zudem vor der Kochzeile ein Moskitonetz herabgelassen, um wenigstens das Essen vor der Rauminstallation zu schützen: nach und nach entweichen den Kisten 200.000 Schmeißfliegen! Burwitz lässt also performen und nicht nur die Tiere, auch wir machen mit: Wir vollführen hektische Bewegungen, hysterische Damen hüllen sich wedelnd in bunte Tücher, wir kichern und gucken fasziniert in die Mitte des Raumes, wo die schwarzglänzenden Insekten wie Atome umherkreisen. Ich stelle fest: Fliegen sind die Discokugel des kleinen Mannes. Und es werden immer mehr! Irgendwann tragen wir alle einen Mundschutz. Nur einmal kreische ich, als ein besonders dicker Brummer dicht an meinem Ohr vorbeisurrt. Als wir später draußen sitzen und den Hauptgang (Schupfnudeln) verspeisen, erzählt Marco mir, dass alle davon ausgegangen sind, die Sendung im Freien zu Ende bringen zu müssen. Stattdessen hat nur eine Person mit grimmigem Gesichtsausdruck vorzeitig das Loft verlassen. Ohnehin sei das mit den Fliegen ein Glücksspiel gewesen, denn man kaufe ja lediglich Maden, die sich verpuppen, um vielleicht als künstlerisch wertvolle Fliegen den Kisten zu entfleuchen.
Während der Heimfahrt kitzeln mich imaginäre Insekten an Armen und Beinen. Wäre ich eine Aufzeichnung früher dort gewesen, hätte ich in einem vernebelten Raum Streichmusik lauschen können, oder eine Aufzeichnung später den Liedern von Andreas Dorau. Aber das wäre ja dann keine spaßige Herausforderung gewesen. Ein sonderbar schöner Abend!
Die Konspirativen KüchenKonzerte gibt es ab 26. August wöchentlich immer freitags um 22 Uhr auf ZDF Kultur und im Netz auf
konspirativekuechenkonzerte.de
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