In der wolkenreichen Welt der Literatur, in der das meiste pure Idee und darum unfassbar ist, bietet Terézia Moras neues Buch gleich zwei Lesebändchen, um sich daran festzuhalten. Nötig sind sie unter anderem, weil Das Ungeheuer, dieser 688 Seiten umfassende Roman, zwei parallel gesetzte Texte enthält: Die obere Hälfte jeder Buchseite ist Darius Kopp gewidmet, dem aus Der einzige Mann auf dem Kontinent bekannten Netzwerker und stoisch taumelnden Helden, dessen größte Tat in den Augen seiner Frau Flora seine unangreifbare Liebe zu ihr ist.
Ihr Text läuft auf der unteren Hälfte der meisten Seiten. Laut Plot hat Flora diesen Text zu Lebzeiten auf Ungarisch verfasst, und ihr Mann Darius lässt ihn, nachdem Flora sich im Wald aufgehängt hat, von einer Studentin ins Deutsche übersetzen. Darius empfindet diese Notizen, in denen er selbst kaum eine Rolle spielt, als zusätzlichen Verrat. Nicht nur, dass Flora ihn mit ihrem Tod für immer verlassen hat, sie führte bereits vorher ein Leben ohne ihn.
Das Ungeheuer ist die Geschichte eines Orpheus mit Notebook, der nach seiner Eurydike sucht. Es ist eine Liebesgeschichte. Es ist aber auch ein Buch über „das Ungeheuer“ Depression. Gespickt mit Zitaten, Beipackzetteln von Medikamenten, dazwischen mal ein Spaghetti-Rezept, mal ein Traumprotokoll, räumt Mora auf mit dem Volksmärchen von der Modekrankheit einer Überflussgesellschaft. Ihr Buch ist ein Affront gegen die kurzen, erstaunten Seufzer, wenn etwa ein Nationaltorwart sich umbringt und damit plötzlich eine Krankheit auf die Titelseiten bringt, deren Dasein im Schatten ihr sonst eingeschrieben scheint.
Psychische Krankheiten gehören in unserer Welt, vielleicht neben Hämorrhoiden, zu den letzten Tabus. Flora spricht vom „Hass derer, die keine Diagnose haben“, vom Neid auf „Extrawürste“, die dem sich offenbarenden Gemütskranken unterstellt werden. Die Liste der sonstigen Schmerzen, die Flora erstellt, ist lang.
Der Mann an ihrer Seite wird, so wie die übrigen männlichen Figuren, als weitaus weniger sensibel geschildert. Doch in diesem Buch wandelt sich der tumbe IT-Spezialist. Tief verwundet vom Verlust seiner Frau versumpft er zunächst für ein Jahr in der gemeinsamen Wohnung. Dann bricht er auf. Vordergründig um ihre Urne zu bestatten. Tatsächlich betritt der 110-Kilo-Mann die imaginäre Planke, auf der seine Frau zeitlebens über dem Abgrund federte.
Ein Jahr lang Absturz
Obwohl Das Ungeheuer der zweite Teil einer Trilogie ist, funktioniert das Buch auch unabhängig von dem vor vier Jahren erschienenen Einzigen Mann auf dem Kontinent. Der Inhalt dieses Buches wird sogar nochmals, aber unter veränderten Vorzeichen erzählt. Flora, die Tüchtige, war einst die Frau, die den arbeitslosen Darius unterhielt. Nun zeigt sie sich in ihrer ganzen Verlorenheit.
Es stellt sich heraus: Für die gemütskranke Flora war die Liebe und gleichzeitige Ignoranz ihres Mannes ein Glück. Er befestigte sie in der Welt. Gleichzeitig kämpfte sie um ihr Leben – mit allem, was ihr zur Verfügung stand; mit einem rigiden Tagesablauf, mit Medikamenten, Sinnsprüchen, Promiskuität. Trotzdem verlor sie am Ende diesen Kampf. Einer, der im Anhang des Buches erwähnten Autoren, Andrew Solomon, nennt die Depression „das Zerrbild der Liebe“. Letzten Endes bedeute sie radikalste Vereinsamung. Eine Erkenntnis, die Darius von seiner Leidensgefährtin Christina am Ende des Buchs nahegebracht wird. Auch sie verlor ihren Ehemann durch Selbstmord und entdeckte nach seinem Tod, dass er sie und die drei Kinder in seinem Tagebuch mit keinem einzigen Wort erwähnte. „Zuerst war ich sehr wütend. Dann habe ich es begriffen: Das ist die Wahrheit. Er war ganz allein, und er konnte nichts dafür, und ich konnte nichts dafür.“ Diese Erkenntnis scheint auch Darius zu dämmern, als er am Ende des Buches Richtung Ätna aufbricht.
Auf der Buchpremiere in Berlin beschied die Autorin, Floras Text sei nicht zum lauten Lesen geeignet. Tatsächlich schreien viele der lyrischen oder gleich als Gedichte gesetzten Fragmente nach Klang. Manches in diesen Bruchstücken kreist auch um die Duplizität der Sprachen, Deutsch und Ungarisch, einem Zwillingspärchen im Kopf der Erzählerin. Terézia Mora selbst ist in Ungarn aufgewachsen, schreibt aber auf Deutsch und übersetzt, zum Beispiel Péter Esterházy, aus dem Ungarischen. Moras Debüt Alle Tage wurde 2005 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet.
Das Ungeheuer ist auch ein Buch über das Fremdsein. Unter anderem handelt es von zwei Menschen, die aus dem öden „bis zum Erwachsenenalter immer gleichen Tagesablauf“ des Sozialismus ungarischer und deutscher Prägung stammen und nun mit dem Raubtier Kapitalismus ringen. Flora hangelt sich von einem prekären Job zum nächsten. Es ist ein Buch, dem der schwankende Boden mit ständiger Selbstreflexion und kühnen zeitlichen und perspektivischen Sprüngen eingeschrieben ist.
Zärtliche Worte
Manche Worte sind sogar durchgestrichen gedruckt. Als hätte sich die Erzählstimme noch im selben Satz selbst verbessert. Das Wort „Galgenhumor“ könnte so ein durchgestrichenes Wort sein, denn eigentlich verbietet es sich im Zusammenhang einer leblos an einem Ast baumelnden Frauengestalt. Tatsächlich ist Das Ungeheuer auf seine ruppige, aber dennoch feinsinnige Art und Weise auch komisch. Wenn Mora etwa das Werk Das Alltagsleben der ungarischen Philosophin Ágnes Heller in drei Grundsätzen radikal verkürzt und folgert: „So be happy and celebrate!“
Es geht auch viel um das Mann- und Frausein in diesem Buch. Viel Fleischlichkeit prallt da aufeinander oder verschmilzt. Die Worte zum Liebesakt zwischen Darius und Flora gehören mit zu den zärtlichsten im Buch. Es gibt aber auch Szenen wie diese: „Und ich, mit dem Gesäusel eines Frauenhassers im Ohr: fange an zu menstruieren.“ Es ist schön, dass Das Ungeheuer auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Es ist ein wortmächtiges Buch über das schwarze Loch, das sich öffnet, wenn ein Mensch seine Liebesfähigkeit und so ein anderer das Objekt derselben, die Liebe seines Lebens, verliert.
Das Ungeheuer Terézia Mora Luchterhand 2013, 688 S., 22,99 €
Dieser Artikel erschien ursprünglich in Ausgabe 40/13 vom 02.10.2013
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.