Alte Frauen: Weise, schön und mutig

Leserbrief In meinem Mailbriefkasten flatterte ein Leserbrief, der an den Freitag gerichtet war. Er soll gelesen werden, denn er erzählt von uns: Den alten Frauen.

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Ihre Freitag-Redaktion

Brigitte M. schickte mir - und anderen - folgenden Leserbrief. Da nicht sicher ist, ob er im Freitag erscheint, stelle ich ihn Euch hier zur Verfügung.

Artikel aus dem Freitag 4/2020, 23. Januar, S. 17

Geneigte Freitag-Leserin,

Liebe Frau Schmitz,

in dem o.a. Artikel malen Sie ein Bild von der alten weißen Frau, das Sie ganz tief unten aus der Schmuddelkiste des Neo-Liberalismus hervor holen. Wir - ich bin Jahrgang 1952 - sind weder ein diffuses "soziales Konstrukt" noch eine Ware mit Kapitalwert. Bitte verwechseln Sie uns nicht mit einer neuen Jeans, in die man Löcher schneiden muss, um sie auf auf alt zu trimmen. Unser Bild von der Jugend machen wir uns ja auch nicht von den Ballermännern oder den Shopppingqueens, wohl wissend, dass es das durchaus im realen Leben gibt.

Lassen Sie mich als Gegenszenario eine meiner vielen Alltagsbegegnungen schildern:

Gestern stieg ich in Berlin am Bahnhof Friedrichstr. aus und ging zum Kinderdenkmal "Züge ins Leben – Züge in den Tod: 1938–1939" in der Georgenstr.. Angesichts des 75. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz war das Denkmal stärken mit Blumen bestückt als üblich. Davor stand eine alte Frau, noch älter als ich, und las sorgsam die Inschrift. Ich stellte mich neben sie und wartete, bis sie sich an mich wandte. Sie erzählte mir, sie habe eine Freundin, wie sie Jahrgang 1940, als Kind deutscher Juden im englischen Exil geboren. Heute engagiere sie, meine Gesprächspartnerin, sich bei den "Pankower Frauen gegen Rechts". Ich erzählte ihr von Herrn Stern, einem meiner ehemaligen Vorgesetzten, der von seinen Eltern als Kind nach England geschickt und von da aus nach Südafrika in Sicherheit gebracht wurde. Die Eltern von Herrn Stern überlebten Auschwitz nicht. Ich sagte ihr, das wir "OMAS GEGEN RECHTS BERLIN" gerne mit den Pankowerinnen zusammen arbeiten. Dann gesellte sich eine weitere alte Frau mit Stöcken zu uns. Leicht sächselnd erzählte sie, dass sie früher gerne nach Ungarn gefahren sei, aber immer mit gesengtem Kopf voller Scham wegen der deutschen Nazi-Vergangenheit. Sie wandelte in Budapest auf den Spuren von Raoul Wallenberg und besichtigte die "Schuhe am Donauufer". Heute würde sie nicht mehr nach Ungarn fahren wollen. Sie erträgt Orbáns Politik nicht. Sie gehe lieber als ehrenamtliche Lesepatin in den Kindergarten und erfreue sich dort der "vielen bunten Kinder"! Sie möchte, dass ihre syrischen Flüchtlingskinder von Anfang an gut Deutsch lernen um im selektiven deutschen Bildungswesen eine Chance zu bekommen und die Möglichkeit erhalten, zweisprachig aufzuwachsen, ohne Identität und Sprache ihrer Herkunft leugnen zu müssen.

Wir drei Zufallsbekanntschaften waren uns einig, dass wir unbedingt all denjenigen, die im Fahrwasser von Adolf Eichmann die Züge in den Tod auch heute noch, 75 Jahre nach Auschwitz, leugnen, das Handwerk legen müssen - immer und überall und jeden Tag! Und dass wir alte Frauen das tun müssen, was wir ein Leben lang getan haben: wir stehen unsre Frau - gegen Rechts!

Und weil unsere Töchter lange arbeiten müssen, begleiten wir unsere Enkel freitags zur FFF-Demo. Wir üben mit ihnen vegan kochen, warnen vor Greenwashing und erzählen ihnen von Kinderarbeit auf afrikanischen Kakaoplantagen. Das nennt man Generativität. Während mein Vater noch meinte, ein Mädchen brauche keine Bildung, denn es würde mit 18 sowieso heiraten, so haben unsere Töchter nie das "nur" davor zu hören bekommen, unsere Söhne wissen nicht einmal mehr, was ein "Stammhalter" ist. Wir haben in den 70iger Jahren für die Gleichberechtigung der Frauen mehr durchgesetzt als alle früheren Generationen zuvor zusammen. Und, bitte, schauen sie genau hin: die erfolgreichen Frauen von heute stehen auf unseren Schultern! Es sind unsere Töchter, biologisch, sozial und historisch! Wir haben ihnen den Weg Richtung Gleichberechtigung geebnet und stützen sie heute weiter. In meiner Kindheit meinten alte weiße Männer noch, eine Frau könne nicht Nachrichtensprecherin werden, denn sie wisse ja nicht, was sie da erzähle. Noch weniger konnten sich diese alten, kalten Krieger vorstellen, dass es die weibliche Form von "Bundeskanzler" gibt und dass die erste Frau, die diesen Posten inne hat, eine ehemalige FDJ-lerin ist.

Liebe Frau Schmitz, Sie schreiben: "Manchmal gibt es die alte weiße Frau im TV: Eiskalt ist sie und verhärmt". Ich sage Ihnen: wechseln Sie den TV-Sender! Und gehen Sie bitte zum Augenoptiker. Das schärft erfahrungsgemäß den Blick enorm.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maja Wiens

Geboren und verwurzelt in Berlin. Schreibend überlebt. Manchmal sprachlos. Fotografie als Zweitsprache. Bekennend LINKS. Parteilos. Praktisches Berufsverbot.

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