"Chaussee der Enthusiasten" - Merle Hilbk

Im Antiquariat entdeckt. Nicht mehr topaktuell. Aber Merle Hilbks Reise durch das Russische Deutschland ist auch 2015 noch lesenswert.

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"Die Russen kommen", war meist einer der ersten Sätze, die wir vom alten Asshauser zu hören bekamen, wenn wir ihm als Kinder Anfang der achtziger Jahre beim Spielen begegneten. Dass es irgendwas mit dem Krieg zu tun hatte, das ahnten wir, aber verstanden doch nichts.

Zehn Jahre später war es meine Mutter, die ich sagen hörte: "Was wollen die alle hier? Der Kohl holt die ganzen Russen ins Land!"

Die Wende lag gerade hinter uns, das Sowjetreich war zerbröselt und die Russen, vor denen meine Mutter sich fürchtete, waren eigentlich Deutsche. Russland-Deutsche werden sie gemeinhin genannt. Eigentlich kennt man sie nicht persönlich. Man kennt nur die Geschichten von den reichen Oligarchen, die sich in westeuropäischen Touristengebieten mit schlechtem Benehmen breit machen. Und in den deutschen Knästen, da glaubt man auch eine Ahnung davon zu haben, wie die Russland-Deutschen sind.

Die Autorin und Osteuropa-Journalistin Merle Hilbk hat sich 2008 auf eine Reise durch Deutschland gemacht, um herauszufinden, wer diese Russland-Deutschen sind. In 18 Kapiteln beschreibt sie die unterschiedlichsten Milieus des russischen Deutschlands, angefangen beim Grenzdurchgangslager Friedland, über eine russische Ballettschule in Augsburg, die Bundesgeschäftsstelle der "Landsmannschaften der Deutschen aus Russland" bis nach Baden-Baden, in eine der russischsten Städte Deutschlands. Mit ihrer Reisebeschreibung skizziert Hilbk nicht nur eine differenzierte Szene, die mit ihren rund dreieinhalb Millionen Mitgliedern in Deutschland häufig als homogene Gruppe wahrgenommen wird, sondern sie liefert auch einen kritischen Rückblick auf die Geschichte, der erklärt, wie die Deutschen nach Russland kamen, welcher Umgang mit ihnen im 20. Jahrhundert gepflegt wurde und der verstehen lehrt, mit welchen Erwartungen diese Gruppe nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Bundesrepublik gekommen ist.

Hilbks Reise durch das Russische Deutschland zeichnet sich dabei durch einen humorvollen, teils ironischen Erzählstil aus und gewährt Einblicke in soziale Nischen, die den Mainstream-Medien meist verschlossen bleiben. Der detaillierte Blick in die russischen Welten der ausgewählten Protagonisten gepaart mit dem großen Bogen, der über die Politik des vergangenen Jahrhunderts gespannt wird, hilft zu begreifen, welcher Kreis der Geschichte sich mit der Einwanderung der Russland-Deutschen in den neunziger Jahren bei uns geschlossen hat.

"Chaussee der Enthusiasten, Eine Reise durch das Russische Deutchland" ist im Aufbau Verlag erschienen. Leider ist das Buch nur noch über das Antiquariat zu erhalten. Schnell auf die Suche begeben, bevor die letzten Exemplare verschwunden sind!

Mehr über die Arbeit von Merle Hilbk findet man auf der Homepage http://www.merle-hilbk.de.

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Geschrieben von

Malahia Malahios

Aus der Mitte des Lebens in die Welt blickend, schreibend, singend, denkend...

Malahia Malahios

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