Aufbruch und Boykott

Chile Die Amtseinführung des Präsidenten machte die Konflikte zwischen dem alten und dem neuen Chile sichtbar. Die Zeit des Burgfriedens mit rechten Parteien scheint vorbei
Ausgabe 27/2021
Als vor dem Gebäude Demonstranten Opfer staatlicher Gewalt wurden, unterbrachen Delegierte die Sitzung und gingen auf die Straße, um die Polizei aufzuhalten und sich selbst verprügeln zu lassen
Als vor dem Gebäude Demonstranten Opfer staatlicher Gewalt wurden, unterbrachen Delegierte die Sitzung und gingen auf die Straße, um die Polizei aufzuhalten und sich selbst verprügeln zu lassen

Foto: Aton Chile/IMAGO

Auf der Straße stank es nach Tränengas, als das Land seine Augen auf das ehemalige Parlamentsgebäude in Santiago richtete, in dem sich am Sonntag erstmals der frisch gewählte Verfassungskonvent traf. Es wurde ein Tag, der wie kein anderer Kontrast und Konflikt zwischen dem alten und neuen Chile erkennen ließ. Von sympathisierenden Demonstranten ermutigt, nahmen viele Delegierte für soziale Bewegungen oder in Namen indigener Chilenen ihren Platz ein. Mit erheblicher Verspätung wurden eine Präsidentin und ein Vizepräsident gewählt. Ein Votum, das Pöbeleien drinnen und polizeiliche Repression draußen begleiteten.

Insofern war diese Inauguration mehr als nur ein Indiz dafür, dass die Zeit eines Burgfriedens mit den rechten Parteien vorbei ist. Als vor dem Gebäude Demonstranten Opfer staatlicher Gewalt wurden, unterbrachen Delegierte die Sitzung und gingen auf die Straße, um die Polizei aufzuhalten und sich selbst verprügeln zu lassen.

Präsident Piñera, der öffentliche Auftritte schätzt, blieb diesmal fern. Er ließ sich durch den von ihm eingesetzten Sekretär Francisco Encina vertreten, der für die Organisation der verfassungsgebenden Versammlung zuständig war, aber versagt hat. Weder gab es im chilenischen Winter eine ausreichende Versorgung mit Wärme und Strom noch ein Catering für die Abgeordneten, das minimalen Standards genügte. Diesen provokanten Umgang mit einer demokratisch legitimierten Kammer hat diese mit einer Agenda des Stolzes und der Selbstbehauptung beantwortet. Als Elisa Loncón nach mehreren Wahlgängen zur Präsidentin bestimmt war, hielt die Linguistikprofessorin eine Antrittsrede mit der Fahne der Mapuche, ihrer indigenen Heimat, in der Hand. „Wir werden Chile neu gründen“, versprach sie und forderte zum Schluss eine Schweigeminute für alle Ermordeten. Das galt den Toten der Kolonialisierung ebenso wie den Opfern heutiger Femizide wie den Verschwundenen aus der Zeit der Pinochet-Diktatur.

Umgehend wollte der Konvent über die Freilassung aller bei seiner Eröffnung festgenommenen Demonstranten diskutieren. Doch dazu kam es nicht: Die Sitzung musste wegen der miserablen materiellen Bedingungen abgebrochen werden. Das oligarchische Chile suchte sein Heil im Boykott, das andere Chile sollte sich wehren.

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