Referendum in Chile gescheitert: Regierung will zweites Verfassungskonvent

Volksabstimmung 78 Prozent der chilenischen Bevölkerung wünschen sich eine neue Verfassung. Die Linke wird Konzessionen machen müssen, wenn eine konstitutionelle Erneuerung das nächste Mal erfolgreich sein soll
Ein Befürworter der neuen Verfassung ruft nach der Abstimmungsniederlage dazu auf, dass Chile für einen zweiten Anlauf aufwachen müsse
Ein Befürworter der neuen Verfassung ruft nach der Abstimmungsniederlage dazu auf, dass Chile für einen zweiten Anlauf aufwachen müsse

Foto: Javier Torres/AFP/Getty Images

Tränen laufen ihr über die Augen. Immer wieder fragt sie ins Leere „Warum? Warum? Warum?“. Am Sonntagabend wurde für Gabriela Hermosilla ein Traum begraben. Die 65-jährige Aktivistin kämpfte schon gegen die Militärdiktatur in den 1980er Jahren und war seit mehreren Monaten auf der Straße, um die Menschen für die neue Verfassung zu gewinnen. Am Ende waren es gerade einmal 38 Prozent, die sich zur neuen Charta bekannten.

Über ein Jahr wurde von einem demokratisch gewählten Konvent ein Verfassungsentwurf ausgearbeitet, der auf feministischen, ökologischen, sozialdemokratischen und indigenen Grundsätzen basierte. Hermosilla überzeugte vor allem der Ausbau eines Sozialstaates und die Gründung eines plurinationalen Chiles. Doch von Anfang an sagten Umfragen einen knappen Sieg der Gegner einer konstitutionellen Erneuerung voraus. Ihnen wurde ein Vorsprung von vier bis sieben Prozentpunkten prophezeit. Das Ergebnis wich deutlich davon ab, am Ende waren es 24 Prozent.

Bei einer Wahlbeteiligung von rund 80 Prozent und 13 Millionen abgegeben Stimmen nahmen so viele Personen wie noch nie in der chilenischen Geschichte an einem solchen Votum teil. Grund dafür war die Pflicht zur Teilnahme bei gleichzeitig automatischer Einschreibung im Wahlregister.

Defizite der Regierung

Für Hermosilla lag die krasse Ablehnung vor allem an einer Desinformationskampagne der Gegenseite. Mit Falschaussagen über die künftige Enteignung von Wohneigentum, über die Spaltung des Landes oder ein Verbot privater Bildung sei Stimmung gegen den vorliegenden Verfassungsentwurf gemacht worden. Die großen Medien erfüllten kaum ihre Aufgabe als unabhängige Berichterstatter. Politikwissenschaftler, die zum Teil selbst für die Verfassung geworben haben, sind sich einig, dass dies keineswegs der einzige Grund war. Marta Lagos, Vorsitzende des Umfrageinstituts Mori, meint, das Votum richte sich auch gegen die linke Reformregierung unter Präsident Gabriel Boric. Zu sehr sei die neue Verfassung ein Projekt seines Bündnisses gewesen.

Auf der Straße und im Wahllokal bestätigt sich diese Meinung. Ein Busfahrer, der lieber anonym bleiben will, erzählt von seiner alltäglichen Arbeit und ist wütend auf die Regierung, die er für die derzeitige Rezession verantwortlich macht. Er erzählt, dass man außerdem zunehmend von Gewalt und Diebstahl betroffen sei. Personen würden in die Busse einsteigen und Passagiere ausrauben. Er erzählt zugleich, „die ständigen Demonstrationen sind voller Verbrecher, die immer wieder meinen Bus anzünden wollen“. Die Regierung habe nichts im Griff, deswegen habe er gegen die Verfassung gestimmt.

Trotz vieler angekündigter Reformen nimmt die Zustimmung zur Regierung stetig ab. Ihr wird vorgeworfen, die politische Gewalt linksradikaler Gruppen und militanter indigener Mapuche nicht im Griff zu haben und zu halbherzig gegen sie vorzugehen. Regelmäßig kommt es in Santiago zu gewaltsamen Ausschreitungen bei Demonstrationen, und im chilenischen Süden greifen militante Indigene die Forstindustrie mit Brandanschlägen an. Die Gewalt konnte trotz Einsatz des Militärs nicht gestoppt werden.

Von linker Seite wird die langsame Umsetzung der Reformen kritisiert. Lange Zeit wartete die Regierung auf die neue Verfassung, um das eigene Wahlprogramm in die Tat umsetzen zu können. Erst wenige Wochen vor dem Referendum – als erste Umfragen bereits eine Niederlage voraussagten – kündigte Finanzminister Mario Marcel an, mit der lange erwarteten Steuerreform zu beginnen. Einen Monat vor der Abstimmung schaffte Gesundheitsministerin Maria Begoña den Eigenbehalt bei der öffentlichen Krankenversicherung ab, der je nach Einkommen bis zu 20 Prozent der Gesundheitskosten in öffentlichen Einrichtungen betrug.

All dies reichte nicht, um die Bevölkerung vom Wandel zu überzeugen. Am Wahlabend erklärte der Präsident der rechtsextremen Unión Democrática Independiente (UDI), „dies ist kein Wahlsieg unseres Parteienbündnisses. Es ist der Sieg der Arbeiter, Bergleute, Landwirte, Fischer und normalen Menschen, die Nein zu einer Neugründung gesagt haben“.

Zu viele „Süßigkeiten“

Der sozialistische Abgeordnete Fidel Espinoza kritisierte derweil die Verfassungsabgeordneten, sie hätten sich zu viele „Süßigkeiten“ gegönnt und zu stark Partikularinteressen in der Verfassung verankert. „Sie haben automatisch drei Millionen Evangelikale gegen sich aufgebracht, nur weil sie das Recht auf Abtreibung in die neue Verfassung geschrieben haben“, sagte er gegenüber einem Lokalsender.

Die Ablehnung des Verfassungsentwurfs bedeutet freilich keineswegs, dass eine Mehrheit der Chilenen die Verfassung aus Zeiten der Militärdiktatur behalten will. Am Tag nach der Abstimmung veröffentlichte das Umfrageinstitut Ipsos eine Umfrage, nach der weiter 78 Prozent der chilenischen Bevölkerung eine neue Verfassung wünscht. Wovon auch die Regierung überzeugt ist. Der Auftrag sei klar, so der Präsident, man solle nun eine Verfassung entwerfen, die die Chilenen vereint. Dies lege das Abstimmungsergebnis vom Oktober 2021 nahe, als sich knapp 80 Prozent der Stimmberechtigten für eine neue Charta aussprachen.

Inzwischen erklärte Regierungssprecherin Camila Vallejo, man würde zur Wahl eines zweiten Verfassungskonvent aufrufen. Details müssten mit den Parteien geklärt werden. Reservierte Sitze für indigene Völker oder vereinfachte Teilnahme für parteiunabhängige Kandidaten wurden nicht mehr erwähnt.

Bewegung bei Rechtsparteien

Allerdings braucht es für einen erneuten Anlauf eine Änderung der aktuellen Verfassung durch zwei Drittel des Parlaments. Die nötigen Stimmen der rechten Parteien dafür sind ungewiss. Die rechtsextreme Partido Republicano meinte bereits, sie sei für einen weiteren verfassungsgebenden Prozess nicht zu haben. Die rechte Zeitung La Tercera veröffentlichte einen Bericht, nachdem die zwei Rechtsparteien, Union Democráta Independiente (UDI) und Renovación Nacional (RN) darauf aus seien, sich politisch ins Zentrum zu bewegen und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu unterstützen.

Während aber RN ankündigte, bei einem verfassungsgebenden Prozess mitzumachen, verlangte die deutlich rechtere UDI, die Regierung solle ihre Niederlage zugeben und Minister auswechseln. Das ist mittlerweile bei sieben Ressortchefs passiert.

Auf den Straßen trifft sich derweil Erleichterung über die abgelehnte Verfassung mit Hoffnung auf einen zweiten verfassungsgebenden Prozess, weniger konfliktreich und weniger dominiert durch linke Sektoren. Nur Einzelne äußern sich kritisch, sie glauben nicht mehr, dass sich etwas ändert. Die Politiker hätten die Kontrolle über den Reformprozess zurückerlangt und würden nicht so schnell ihre Privilegien aufgeben.

Auch Hermosilla ist der Meinung, die Hoffnung auf Wandel ist bei ihr verschwunden.

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