Hinter dem Rezeptionstresen sitzen Schwester Anita und Schwester Gabi. Die Wände in Apricot, der Boden weiß gefliest, ein Schild bittet, aus Diskretionsgründen Abstand zu halten. „Der stressige Teil ist schon vorbei“, sagt Schwester Gabi, „jetzt kommen nur noch Terminpatienten. Die wirklich akuten Fälle sind zwischen halb acht und neun dran.“
Brandenburg hat die deutschlandweit geringste Arztdichte, hier in der Praxis der Allgemeinärztin Elke Jacoby in Wustrau bei Fehrbellin aber scheint die Welt noch in Ordnung. Die Praxis ist gut ausgestattet: rechts entlang zwei Behandlungsräume und das Zimmer zur Schlaganfallvorsorge, links das Wartezimmer mit einem Bildschirm, der Informationen für die Patienten in roten Lettern zeigt. Es gibt ein Labor, eine Tür weiter ist das Schulungszimmer. „Früher haben wir hier Aromatherapien angeboten, dafür haben wir jetzt allerdings keine Zeit mehr“, sagt Gabi. In der Mitte steht ein Sessel – eine Art Rückzugsort, an dem Patienten von ihren Sorgen erzählen können. Das Notfallzimmer ist mit einem EKG ausgestattet – bis nach Neuruppin, wo das nächste Krankenhaus liegt, sind es 20 Minuten mit dem Auto. Am Tresen plaudern die Schwestern mit den Patienten, „Hat sich mein Vater bei Ihnen gemeldet?“, fragt jemand. „Wir kennen hier eigentlich jeden“, sagt Schwester Anita. Zwar sind viele, die hier früher als Kinder Patienten waren, inzwischen weg. Dafür kommen neue junge Leute, die hier, 75 Kilometer von Berlin entfernt, Häuser bauen oder kaufen.
Auf der Landstraße, die durch Wustrau führt, herrscht beständiger Durchgangsverkehr, im Lokal „Zum alten Zieten“, zwei Häuser neben der Praxis, sitzen Leute und essen Hausmannskost. Post, Schule, Zahnarzt, Bäcker, Kindergarten, ein Museum über Brandenburg-Preußens Geschichte, beim alten Schloss unten am See wird gebaut. „Wir sind die letzte Gemeinde, die noch alles hat“, sagt Schwester Gabi.
Ein Kollege wird bald 80
Damit stellt Wustrau eher die Ausnahme denn die Regel dar – in vielen ländlichen Regionen quer durch die Republik zieht eine mangelhafte Infrastruktur die Landflucht der Bewohner nach sich, und gerade junge Ärztinnen und Ärzte ziehen es vor, in Krankenhäusern oder Praxen in der Stadt zu arbeiten. Heute ist jeder dritte Hausarzt in Deutschland älter als 60 und damit dem Ruhestand nah. „Man muss sich sehr genau überlegen, ob man die Nachteile der Arbeit auf dem Land in Kauf nimmt“, sagt Gerhard Danzer, Professor für Psychosomatik an der Charité in Berlin. 2014 hat er die private Medizinische Hochschule Brandenburg in Neuruppin mitgegründet – die einzige in dem Bundesland, an der man Medizin studieren kann. Ein Schwerpunkt des Studiums liegt auf der Allgemeinmedizin: „Die Studierenden werden von Anfang an mit sogenannten Landarztpraxen in Kontakt gebracht“, sagt Danzer. Das Wort „sogenannte“ stellt er stets voran, wenn er von „Landärzten“ spricht, denn es erscheint ihm ungenau: Landarzt kann man nicht studieren. Man macht im Krankenhaus den Facharzt Allgemeinmedizin, lässt sich dann auf dem Land nieder.
Um Nachwuchsmedizinern diese Option schmackhaft zu machen, gibt es an der Hochschule in Neuruppin alle zwei Wochen einen Praxistag in Niederlassungen von Ärzten, um direkte Einblicke vor Ort zu ermöglichen. Danzer und die Hochschule wollen Studierende in diese Richtung „sozialisieren“, ihnen die positiven Seiten des Berufs zeigen. In Kliniken und Großstadtpraxen wird meist punktuell diagnostiziert und therapiert, in einer Landarztpraxis begleitet man Menschen dagegen über einen langen Zeitraum hinweg.
In Wustrau erzählt die Ärztin Elke Jacoby, was das konkret heißt: „Wir besprechen mit den Patienten Probleme, die sie etwa in der Familie oder am Arbeitsplatz haben, wir machen im Grunde ganz viel Gesprächstherapie.“ Manchmal waren schon die Urgroßeltern ihres heutigen Patientenstammes hier in der Praxis in Behandlung.
Zu DDR-Zeiten wurden die Ärzte den Landstrichen noch nach Bedarf zugeteilt. Jacoby hatte einst in Greifswald studiert, wollte nicht weit entfernt von ihrem Mann leben, konnte die Ausbildung zur Allgemeinärztin in Neuruppin absolvieren – und dann war die Stelle in Wustrau vakant, nur 18 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt. Der Anfang war schwer, denn ihr Vorgänger hatte sich das Leben genommen.
Mehr als 30 Jahre später kennt sie jede und jeden in Wustrau und den umliegenden Orten, die sie betreut. „Früher hatte man seinen festen Sprengel, da hatten wir auf jedem Dorf eine Sprechstunde.“ Auch heute habe sie noch viel zu tun, aber es sei alles in allem weniger als vor zehn Jahren: Die Zahl der Bereitschaftsdienste beläuft sich auf zwei bis drei im Monat; früher waren sie zwei Ärzte, die sich das teilten, was bedeutete: Dauerdienst im wöchentlichen Wechsel, Tag und Nacht, egal ob Silvester oder Weihnachten. Inzwischen gibt es dafür mehr Kollegen verschiedener Fachrichtungen, und die Dienstbereiche sind größer – zum Teil verbunden mit Fahrstrecken von bis zu 70 Kilometern. Hausbesuche macht Jacoby nur noch montags. „Verglichen mit damals ist es Entspannung pur.“ Einzig die administrativen Aufgaben, der Schreibkram, stören sie, ohne diese würde die Arbeit noch viel mehr Spaß machen.
Im 40 Kilometer entfernten Kyritz, erzählt Jacoby, habe sie einen Kollegen, der noch mit fast 80 praktiziere, weil er seine Praxis nicht loswerde. Nun hoffe er, jemanden aus Polen als Nachfolger zu finden. „Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum junge Leute sich heute nicht dafür entscheiden, aufs Land zu gehen“, sagt sie. Viele Kollegen aus der Klinik in Neuruppin pendelten täglich von Berlin aus, „heute hat ja jeder ein Auto“.
Sachsen zahlt Studienplätze
Und der Schritt in die Selbstständigkeit erfordert Kapital, etwa für die Anschaffung neuer Geräte. In Brandenburg fördert das Land Ärzte, die sich in unterversorgten Regionen niederlassen, mit 55.000 Euro.
Zwar sind die finanziellen Perspektiven einer Landarztpraxis dann schlechter als die in den Städten, wo der Anteil der Privatpatienten größer ist. Aber gut leben könne man von dem Beruf allemal, sagt Jacoby.
Um das Interesse an der Arbeit auf dem Land zu steigern, gibt es verschiedene Initiativen: Seit der Reform des Medizinstudiums im vergangenen Jahr haben die Bundesländer die Möglichkeit, eine Landarztquote einzuführen und Studienplätze für Bewerber zu reservieren, die sich zu einer Niederlassung auf dem Land verpflichten. Der Freistaat Sachsen hat ein Programm gestartet, das 20 Studienplätze komplett finanziert. Die Teilnehmer studieren im ungarischen Pécs auf Deutsch und müssen sich für ihre spätere Arbeit auf den ländlichen Raum festlegen. Der Erfolg solcher Maßnahmen werde sich erst in Jahren beurteilen lassen, sagt Gerhard Danzer.
Mit ihren 64 Jahren hört Jacoby von Patienten oft die Frage, wie lange sie noch machen werde. Sie sagt dann immer: „Machen Sie sich mal keine Sorgen, ich bin hier noch ganz lange.“ Sie ist optimistisch, dass – wenn die Nachfolgefrage ansteht – auch die Gemeinde helfen wird, jemanden zu finden. „Den könnte man schon ein bisschen hofieren.“
In Jacobys Wartezimmer sitzt ein älterer Herr, alle drei Monate kommt er zur Routinekontrolle, jetzt brummt er vor sich hin, blickt auf den Bildschirm, darauf steht: „Wir werden Sie auch in den nächsten Jahren betreuen.“ Er murmelt: „Na ja, dann.“ Und verschwindet zur Behandlung, als Schwester Anita seinen Namen aufruft.
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