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Es geht um was Jugendliche werden mit einer Politik konfrontiert, der sie ohnmächtig gegenüberstehen. Doch mit welchem Recht schließen wir junge Menschen von den Wahlen aus?

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Wir sollten darüber diskutieren, warum Jugendliche nicht wählen gehen dürfen
Wir sollten darüber diskutieren, warum Jugendliche nicht wählen gehen dürfen

Foto: Jens Schlueter/Getty Images

Der Landesjugendring Brandenburg informiert auf Internetseiten junge Menschen umfassend über die Möglichkeit des Wählens ab 16. Mir erscheinen manche Textpassagen tendenziell pädagogisch. Sie sind offensichtlich nur für einen Teil der Jugendlichen attraktiv. Vergleichbare Texte auf der Erwachsenenebene über deren Wahlverhalten werden ebenso nur von einem gewissen Prozentsatz der Bürger gelesen und durchdacht.

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2012 beginnt mit der Feststellung, daß es der oft emotional geführten Debatte (Wählen ab 16) allerdings meist an einer nüchternen Bewertung der Fakten mangele. Dieser Blick auf Jugendliche ist ernüchternd und vielleicht deshalb einer der Gründe, weshalb die Bundeskanzlerin die Computerspielmesse Gamescom eröffnet, wodurch emotionales Terrain gerade bei jungen Menschen erobert werden könnte.

Die ausführliche Studie der Bertelsmann Stiftung von Ende 2015 bzw. aus dem Jahr 2016 gibt an, dass im Vergleich zur nächst höheren Altersgruppe die 16 und 17-jährigen deutlich häufiger zur Wahl gehen. Fast immer sei ihre Quote deutlich höher als die der 18 - 25-jährigen und oft auch höher als die der 25 - 34-jährigen. Das widerspricht der Wertung der Konrad-Adenauer-Studie.

"Es geht um was!" - unsere Wahlserie greift die Themen auf, die bei der Bundestagswahl unter den Tisch fallen. Dabei recherchieren unsere Redakteure zu sozialem Wohnungsbau, unterfinanzierten Kommunen oder dem Bienensterben in Deutschland. Doch auch Sie können uns Themenvorschläge machen! Schreiben Sie uns, was im Wahlkampf nicht diskutiert wird.

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Wie bei den Erwachsenen wirkt sich bei den Jugendlichen prägende Umwelt auf das Wahlverhalten aus. Wenn Jugendliche ab 14 Jahren weiterhin von ihren Eltern als Kinder behandelt werden, wenn ihre Orientierung an eigenen Bedürfnissen nicht ernst genommen wird, wenn ein Identität bildendes Leben von Eltern blockiert wird, wird dies von den Jugendlichen als eine bestimmte Art von Vernachlässigung der Persönlichkeitsrechte erlebt, die aber selten so klar - eben durch die Gängelei der Eltern - von den Jugendlichen erkannt und sehr wichtig: benannt werden kann.

Was Jugendliche leisten und damit bewirken können, wird beispielsweise durch Dario Schramm, Schüler einer Integrierten Gesamtschule aus Bergisch Gladbach, deutlich, der eine Petition gestartet hatte, bei der mehrere zehntausend Menschen durch ihre Unterschrift Dario Schramm in seiner Forderung nach Neuauflage der Englisch-Prüfung unterstützten.

Schüler unter 18 Jahren absolvieren Praktikas in London, San Franzisko und anderen Weltstädten. Möglicherweise kennen sie sich innerhalb weniger Wochen und Monate in diesen Städten besser aus, als mancher dort seit langem lebender Bürger.

Eine 11-jährige möchte Falknerin werden und geht einmal wöchentlich bei einem Falkner in die Lehre. Sie weiss mit ihren elf Jahren mehr über dieses Handwerk als Millionen Bundesbürger. Statt der in diesem Alter üblicherweise Verniedlichung von Tieren gibt sie Natur in einer Wirklichkeit Raum, die ihre eigene Entwicklung auf die ihr angemessene Art und Weise fördert.

Jugendliche werden mit Politik konfrontiert, der sie ohnmächtig und ohne die Möglichkeit durch Wählen diese Politik beeinflussen zu können, ausgesetzt sind. Das betrifft unter anderem das Herausholen von Mitschülern aus der Schulklasse, wie geschehen bei der 14-jährigen Nepalesin, die aus einem Duisburger Gymnasium herausgeholt wurde. Betrifft das Herausholen eines 21-jährigen Afghanen aus einer Berufsschulklasse. Das sind Zumutungen und Konfrontationen, denen der größte Teil der deutschen erwachsenen Bevölkerung erfolgreich aus dem Weg geht.

Ich verweise auf den Film 4 Könige, in dem vier junge Menschen zu Weihnachten in der Jugendpsychiatrie untergebracht sind. Zitat aus einer Filmkritik: Zum Glück steht ihnen der unkonventionelle Arzt Dr. Wolff zur Seite, der in allen vier ihre Stärken sieht und ihnen mehr zutraut, als sie sich selbst.

Ich verweise auf den Artikel im Spiegel von Peter Brügge vom 8.4.1968: "Ihr könnt uns Liebe erlauben, der Erwachsenen und heute Politik Definierenden erlaubt, sich zu erinnern. Erinnern an eine Situation, in der die meisten von ihnen unter Verständnislosigkeit und der damals üblichen Kleinkariertheit der Erwachsenen litten."

Ich verweise auf das von Ruben Donsbach geführte Interview mit Christoph Joseph Ahlers in der ZEIT. Dieser hält Emmanuel Macron für jemanden, der geerdet ist und für Fähigkeiten wie Beständigkeit und Festigkeit steht und sich für die von ihm angestrebte Partnerschaft mit Brigitte bereits als Teenager selbst- und zielbewußt durchsetzte.

Das Potential der jungen Wähler ist immens. Die Gefahr von Manipulation und Konditionierung enorm. Hat der Löwe erst mal seine Pfote in der Tür, ist es nicht so einfach, ihn außen vor zu halten. Würde er seine gesamte Kraft einsetzen. Das macht er nicht. Schließlich ist er domestiziert. Schließlich wird dafür gesorgt, dass er satt ist. Ein Versuch, die Pfote als Werkzeug zu nutzen, wer wollte ihm das verübeln? Angst haben die in anderen Räumen Lebenden trotzdem.

Sich selbst vertrauen können. Das ist ein wichtiges Ziel, das schon sehr früh von Eltern und Lehrern gefördert werden könnte.

Welche zweite Fremdsprache lerne ich, welches Fach wähle ich ab. Entscheidungen die vielleicht nicht unreflektiert, jedoch ohne Manipulation von Seiten der Eltern mit selbst ausgesuchten Gesprächspartnern, die auch vernünftige Mitschüler sein können, respektiert werden sollten.

Eine Entschuldigung selbst schreiben - erst ab 18 Jahren. Wie relativiert der einzelne Schüler das völlig legitime Freiheitsempfinden, das er erlebt, wenn er über die Möglichkeit nachdenkt, unangenehmen Unterrichtsstunden künftig aus dem Weg zu gehen? Und das kurz vor dem Abitur. Wenn von Schülern erwartet wird, dass sie mit 14 Jahren die nötige Reife besitzen, um Religion abwählen zu können, ist es an der Zeit, gesellschaftsethische Werte zu diskutieren. Das wäre dann eventuell (im Elternhaus) möglich und nötig, wenn 14 - 16-Jährige ihre Entschuldigung selbst schrieben und sie von den Eltern abzeichnen ließen. Lernen mit Verantwortung umzugehen, um ab 16 zu wissen, welcher Einsatz sich für das nächste Jahr, die nächsten zwei, drei Jahre zu leisten lohnt.

Lernen mit Gefährlichem umzugehen, das bedeutet, unter bestimmten Voraussetzungen mit 16 oder 17 Jahren in Weltstädte reisen zu können. Mit 11 Jahren physisch und psychisch in der Lage zu sein, mit Raubvögeln umgehen zu können. Mit 16 Jahren eine Petition erfolgreich in (Amts-)Wege leiten zu können. Es bedeutet, mit 16 Jahren die Möglichkeit zu haben, Wählen gehen zu können.

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