Mit der Aufwertung der Jugendkultur wurden auch die Vorlieben der jeweils eigenen Kindheit und Jugend zum identitätsstiftenden Faktor. Die Nouvelle Vague etwa hatte Lemmi Caution und Honoré de Balzac, New Hollywood stieg mit B-Picture-Themen wie Der weiße Hai in die Verwertung ein, und in einer zweiten und dritten Runde kamen Superman und Batman, mit Raumschiff Enterprise und Mission: Impossible wurden die Medienerfahrungen direkt verwurstet. Inzwischen hat die jetzt aktive Produzentengeneration der 40- bis 50-Jährigen fast alle Großkulte der sechziger und siebziger Jahre abgearbeitet und aus dem, was auf der einen Seite eine generationsübergreifende Gemeinsamkeit behauptet, auf der anderen Seite ein Angebot für die umliegenden, meist aber jüngeren Generationen gemacht.
Mit solchen Medienwechseln sind aber immer auch Übertretungen und Übergriffe verbunden: Auf dem Weg vom Ausgangsmedium in den Film zersetzt sich nicht zuletzt der leichte Schmelz von Erinnerung und Gemütlichkeit, der die Freuden der Vergangenheit umgibt, und wird zu etwas eigenartig Festem und Erstarrtem. Das hat sicher mit dem kommerziell bedingten Hang zu Bombast und Event zu tun, aber vor allem mit dem Einrennen offener Türen, das bei Comic-Adaptionen ja zur wichtigsten Geschäftsgrundlage gehört.
Mit Spider-Man kommt nun eine der letzten großen Comic-Figuren ins Kino. Und mit dem für das Drehbuch verantwortlichen David Koepp, der das Feld des jugendlichen Bombasts schon erfolgreich mit Jurassic Park oder Mission: Impossible beliefert hat, und Regisseur Sam Raimi, der in seinen Evil Dead-Filmen einst die Kamera innovativ dynamisierte, wurden Zwei zusammengebracht, denen eine passable Adaption der Motive von Stan Lee und Steve Ditko trotz allen Misstrauens gegen den Medienwechsel zuzutrauen war.
Peter Parker (Tobey Maguire), der zukünftige Spider-Man, ist ein kleinbürgerlicher Verstandesmensch, der weiß, dass er vom Leben nicht viel zu erwarten hat. Seine Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, deshalb wohnt er bei Onkel Ben und Tante May. Deren Haushalt ist von einer großelterlichen, fast bäuerlichen Bodenständigkeit geprägt und so wurde Parker zu einem zuvorkommenden und aufrichtigen, aber auch hochgradig gehemmten und sozial inkompetenten Menschen erzogen, der dazu noch in der Schule völlig unbeachtet bleibt. Wenn ihn dort jemand grüßt, dann dreht er den Kopf verwundert nach hinten, um festzustellen, ob wirklich niemand anderer gemeint war. Das passiert ihm vor allem mit der High School Queen Mary Jane Watson (Kirsten Dunst), in die er verliebt ist, aber auf eine passive, beobachtende und ungeschickte Weise.
Parkers einziger Freund ist Harry, der Sohn von Nanotechnik-Tycoon Norman Osborn, mit dem er auf der Ebene des gemeinsamen Außenseitertums zusammenkommt. Während eines Schulausflugs in die Laboratorien von Harrys Vater spielt der Zufall Schicksal. Parker wird von einer entlaufenen, im Original radioaktiven, nun aber genetisch manipulierten Spinne gebissen und mit deren Eigenschaften geimpft. Seine Hände werden klebrig, die Sinne geschärft und seine Muskeln schwellen an. Vor allem kann er sich auf jeder Oberfläche und in jeder räumlichen Dimension bewegen und aus den Handgelenken Spinnenfäden stoßen. Mit diesen Eigenschaften nimmt Parker im Marvel-Universum gerade mal mittlere Positionen ein (in den Bereichen Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Reflexe und Kampftechnik), aber das reicht, um ihn in eine jubilatorische Stimmung zu versetzen. Er glaubt, dass ihm von jetzt an alles zur Verfügung stehen kann, was Frauen beeindruckt und das Leben aufregend und angenehm macht.
Aber dieser Wunsch wird so nicht erfüllt. In einem Moment höchster moralischer Gleichgültigkeit wird Parker zum Verantwortlichen für den Tod seines Onkels. Er belädt sich indirekt mit Schuld, weil er seine Fähigkeiten falsch eingesetzt hat. Aber so wirken die letzten Worte des Onkels umso dringlicher nach: "Mit großer Macht kommt auch große Verantwortung."
Dieser Leitspruch weist Konsumismus, Lebensfreude und Sex aus dem Bereich der Zukunftsoptionen. Peter Parker durchschwingt als Spider-Man den Stadtraum, ist so einsam wie zuvor, aber mit dem neuen Habitat kommen auch neue Bitterkeiten: Die Welt zeigt sich ihm zum ersten Mal in ihrer ganzen Niedertracht, Härte und Gefährlichkeit. Aber Parker, dazu bestimmt, die Forces of Evil zu bekämpfen, nimmt diese Herausforderung trotzdem an. Aus demselben Labor, das seine neuen Fähigkeiten hervorgebracht hat, dringt nun auch ein zweites Geschöpf an die Öffentlichkeit. Es ist Harrys Vater, der sich als Green Goblin zum Alter Ego einer von Gier getriebenen Denkweise aufbläht, und New York zu terrorisieren beginnt.
Unter diesen Umständen ist Mary Jane Watson für Peter Parker bald nur noch ein entrückter Liebeswunsch, der sich niemals in etwas Saftigem wie Sex erfüllen wird. Parker verlegt sich auf das asketische Ideal, darf aber den narzisstischen Erotismus des Selbstdesigns in seinem hautengen Latexanzug ausleben, so ähnlich wie es vielleicht auch Robert Steinhäuser in der Ninjamaskierung tat. Seinen Höhepunkt findet dieses Verkleidungsmotiv in einer verdrehten Kussszene: Spider-Man hängt kopfüber vor dem Mädchen, sie pellt sein Gesicht aus dem elastischen Überzug, gerade nur soviel, dass der Mund freiliegt, und zum ersten und letzten Mal wird ein sexueller Kontakt erlaubt.
Aber trotz dieser Szenerie von Hemmung, Verfehlung und Verzicht gibt es in diesem Film eine vollkommene Balance zwischen Persönlichem, Emotionalem und einer unglaublichen Action, die in Comic-Adaptionen selten ist und von der technischen Bedingtheit der Computeranimationen ohnehin meistens unterbunden wird. Wie zu beobachten etwa in George Lucas´ letzten Star Wars-Episoden, in denen sich das Computer Aided Design in einem renaissancehaften Auftürmen und Ineinanderschieben von Immergleichem vergeudet. Sam Raimi dagegen zeigt ein großes Geschick, gerade die Computeranimation zum Gestaltungsmittel für kraftvolle Choreographien und dynamische Blickwechsel zu machen, was seinem Film visuell und vom Tempo her besonders nah an das Comic-Hafte heranführt. Er verbindet das mit einer Wärme, einem Charme und Humor, der auf unentwegte Ironie verzichten kann und deshalb besonders schöne Euphorien erzeugt.
Diese Euphorien haben sicher auch noch einen anderen, auf dem Feld der Identifikationen und Repräsentationen zu suchenden Grund. In Peter Parker/Spider-Man tritt der Kleinbürger in die Rolle ein, die ihm am liebsten ist: Er wird zum Nabel der Welt, kann die Stadt in ihrer Fülle in Besitz nehmen und sich so den Traum von unbedingter Teilhabe erfüllen, die gern auch diktatorische Aspekte haben darf. Es sind Projektionen einer Selbstermächtigung, genauer: einer männlichen Selbstermächtigung, die hier einmal wieder ein großes Forum erhalten und die gerade durch Tobey Maguires immer etwas perplexe Wachheit besonders attraktiv erscheinen.
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