Schwindsucht der Gletscher

IPCC-REPORT BESTÄTIGT MASSIVEN KLIMAWANDEL Die Folgen sind nicht mehr aufzuhalten - allenfalls noch abzumildern

Band IV von Harry Potter, dem bekanntesten Zauberlehrling der Welt, lag vor kurzem unter vielen Weihnachtsbäumen. Weniger bekannt, aber vergleichbar spannend, sind die Fortsetzungsberichte des IPCC (s. rechts unten), da sie eine Bedrohung der realen Welt beschreiben. Dieses internationale Expertengremium der Vereinten Nationen wird in diesem Jahr seinen dritten Sachstandsbericht herausgeben, der den aktuellen Befund zur globalen Erwärmung darstellt. Dazu trafen sich im Januar Wissenschaftler in Shanghai zur Beratung über das erste und im Februar in Genf über das zweite von drei Kapiteln dieses Berichts.

Die seit Wochenbeginn vorliegende Analyse des IPCC erhärtet bisherige Feststellungen zur außergewöhnlich starken Erwärmung der Erde im vorrigen Jahrhundert sowie die Erkenntnis, dass die von Menschen freigesetzten Treibhausgase wie CO2 einen bedeutenden Anteil daran haben. Sie belegt damit zusammenhängende anderweitige Veränderungen im Klimasystem der Erde und beschreibt denkbare dramatische Entwicklungen im 21. Jahrhundert.

Dabei verdichten sich die Beobachtungen zu einem Gesamtbild der globalen Erwärmung: Der Mittelwert der Oberflächentemperatur der Erde ist im 20. Jahrhundert um etwa 0,6 °C gestiegen. Weltweit dürften die neunziger Jahre die wärmste Dekade, dürfte 1998 das wärmste Jahr seit Beginn der systematischen Messungen im Jahre 1861 gewesen sein. Die winterlichen Schnee- und Eisdecken verringerten sich seit den sechziger Jahren spürbar, die Gletscher und das arktische Eis gingen zurück, der Meeresspiegel stieg während des 20. Jahrhunderts im globalen Mittel um 0,1 bis 0,2 Meter. Die Niederschläge nahmen im Mittel in den nördlichen Breiten und den Tropen zu, während sie in den subtropischen Gebieten der nördlichen Hemisphäre abnahmen. Unterschiedlich in den einzelnen Erdregionen traten extrem starke Niederschläge auf - gleiches gilt für extreme Dürreperioden.


    Das IPCC - wissenschaftliche Beratung von Klimapolitik

    Der Zwischenstaatliche Ausschuss über Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change/IPCC) wurde 1988 durch die UN-Vollversammlung ins Leben gerufen und ist eine gemeinsame Unternehmung der Weltmeteorologischen Organisation (WMO) und des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP). Er soll den Wissensstand zum Treibhauseffekt, zum Verhältnis zwischen natürlichen und durch den Menschen bewirkten Ursachen und zu möglichen Auswirkungen darstellen sowie politische Handlungsoptionen aufzeigen. Angestrebt wird eine freie, politisch unbeeinflusste Meinungsbildung in den drei Arbeitsgruppen:

    - Analyse des Klimasystems und der Ursachen seiner Veränderlichkeit,

    - Abschätzung der Auswirkungen des Klimawandels,

    - Darstellung von Strategien zur Vermeidung, Minderung und Anpassung.

    Der jeweils aktuelle Sachstand wird im Fünf-Jahres-Rhythmus durch Hunderte der weltweit besten Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete zusammen getragen, diskutiert und in weitgehend allgemein verständlicher Form berichtet. Der 2001 erscheinende dritte Bericht zum "Sachstand Klimawandel 2000" folgt auf die Reports der Jahre 1990 und 1995.

Eine entscheidende Rolle bei den schon registrierten, aber auch bei den noch zu erwartenden Klimaverschiebungen spielen die von Menschen freigesetzten Treibhausgase und Aerosole. Durch sie wird die Atmosphäre so verändert, dass ein Klimawechsel immer unaufhaltsamer zu werden droht.

Die Ursachenforschung kann sich dabei auf Computermodelle des Klimasystems stützen, deren Aussagekraft und Verlässlichkeit inzwischen erheblich an Qualität gewonnen hat. Das gilt nicht zuletzt für die daraus abzuleitenden Zukunftsprojektionen.

Im Zeitraum zwischen 1990 und 2100 wird demzufolge eine globale Erwärmung um 1,4 bis zirka 6 °C erwartet (*/gegenüber 1,0 bis 3,5 °C im vorhergehenden Bericht). Die Spanne im Temperaturanstieg ist dabei wesentlich auf unterschiedliche Szenarien künftiger Emissionen zurückzuführen. In vielen Ländern wird der Verbrauch fossiler Energieträger künftig noch ansteigen - hier liegt eine wesentliche Quelle für Unsicherheiten in der Prognose.

Man sollte sich also völlig im Klaren darüber sein, dass nur durch eine wirklich drastische Reduktion der Treibhausgasemissionen - vor allem des CO2 - deren Konzentration in der Atmosphäre stabilisiert werden könnte. Dennoch - und das ist das Gravierende - wird sich der Klimawandel über viele Jahrzehnte fortsetzen. Eine Konsequenz, die aus der Trägheit jener Prozesse resultiert, die sich im Klimasystem abspielen. Selbst wenn die mit dem Kyoto-Protokoll vereinbarten CO2-Reduktionen eingehalten würden (leider ist die UN-Klimakonferenz von Den Haag im November 2000 gescheitert), wären die oben genannten Temperaturerhöhungen nur um weniger als 0,1 °C geringer - "Peanuts".

Der jüngste IPCC-Report hält ein Zunahme bestimmter extremer Wetter- und Klimazustände in einigen Regionen daher für wahrscheinlich. Sich bisher abzeichnende Trends dürften sich eher noch verstärken, etwa bei der Verteilung von Niederschlägen, der Zunahme von Extremwetter und dem Anstieg des Meeresspiegels. Darüber hinaus muss man mit deutlich heftigeren und vor allem häufigeren Stürmen - vorrangig in den Tropen, aber auch in unseren Breiten - rechnen.

Über die Frage, welche Auswirkungen diese Befunde letztlich auf unser Leben haben und wie damit umzugehen ist, sind die Debatten im IPCC noch im Gange. Es zeichnet sich jedoch ab, dass der neue Report alles andere als eine Entwarnung in Sachen Klimawandel verheißt - ganz anders als das einige vorschnelle Kommentare zu verstehen gaben. Im Gegenteil: Schon heute vorhandene Probleme der Menschheit können sich durch den Klimawandel enorm verschärfen. Dazu gehören Trinkwasserknappheit und Überschwemmungen, Einbußen in der Landwirtschaft, Hunger und Krankheiten.

So bleibt als Fazit: Der Klimawandel lässt sich nicht mehr aufhalten, sondern allenfalls hinsichtlich seiner ärgsten Folgen noch abmildern. Es gilt heute, sich auf die zu erwartenden relativ raschen und kräftigen Änderungen unserer Umwelt- und Lebensbedingungen einzustellen. Dies sollten wir als Herausforderung betrachten.

Anders als Harry Potter sind wir Menschen die Zauberlehrlinge in dieser realen Welt. Wir haben die Geister der Industrialisierung in Form vieler Maschinensysteme gerufen, die fossile Energie verbrauchen - und es werden stetig mehr. Die meisten Zeitgenossen haben noch gar nicht bemerkt, welche Zäsuren diese Geister für ihre unmittelbaren Lebensumstände heraufbeschwören. Einige wenige hingegen suchen eifrig nach der Zauberformel, die es erlauben könnte, das Treiben zu beherrschen. Doch es wird uns kein Meister Albus Dumbledore zu Hilfe kommen; wir müssen die rettende Formel selbst finden.

(*) Eine Untergrenze im Bereich von etwa 3 °C wird von vielen Experten allerdings für realistischer gehalten, da die optimistischen Szenarien leider wenig wahrscheinlich sind. Reduktionen von Treibhausgasen, die weit über Kyoto hinausgingen, müssten quasi beschlossene Sache sein, schwer vorstellbar.

Dr. Manfred Stock ist Stellvertretender Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.

Klimaveränderung und Energiespektrum

Eine für das 21. Jahrhundert unumgängliche Klima- und Umweltschutzpolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn eine globale Kohlendioxid-Reduktion um 50 Prozent erreicht und gleichzeitig weltweit ein Ausstieg aus der Atomenergie vollzogen wird. Denn die Treibhausgase - allen voran CO2 - entstehen vorzugsweise aus der Verbrennung der fossilen Energieträger Kohle und Öl, aber auch aus der vermehrten Rodung von Wäldern in Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika. Klimaschutzpolitik sollte demzufolge eine Umkehr bei der Nutzung vorhandener Energieressourcen auslösen. Die folgende Übersicht zum Energiespektrum verdeutlich, wie dabei Risikofaktoren potenziert oder minimiert werden können.


Fossile EnergienNichtkonventionelle fossile Energiequellen
(Ölsande/Ölschiefer/
Methanblasen ect.)
Atomspaltung Atomfusion Erneuerbare Energien
(Sonnenenergie/Windkraft/
Biomasse ect.)
Potenzial begrenzt begrenzt begrenzt nahezu unbegrenzt unbegrenzt
Kosten relativ niedrig hoch relativ niedrig extrem hoch kontinuierlich sinkend
Risiken extrem
(Klimawechsel,
Naturzerstörung,
Gesundheitsschäden)
sehr extrem
(Klimawechsel,
schwere Abbauschäden)
sehr extrem
(Unfallgefahr,
Atommüll, Verbreitung
von Kernwaffen)
sehr extrem
(Unfallgefahr,
Atomüll)
keine

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