Die das Fürchten lehren

Deutschland Vor allem im Osten ist die Angst ein ständiger Begleiter für die, die sich engagieren oder nur unangepasst sind
Ausgabe 36/2018
„Wir sind mehr“ ist ein schönes Motto. Aber stimmt's?
„Wir sind mehr“ ist ein schönes Motto. Aber stimmt's?

Foto: John Macdougall/Getty Images

Apropos Märchen: Eines der Lieblingsmärchen meiner Kindheit war Grimms Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Ein Junge begreift nicht, was es bedeutet, sich zu gruseln. Er wird deshalb für dumm gehalten und auf eine Reise geschickt, die Leben kostet. Ich musste dafür nicht ausziehen. Meine Jugend ist ein Schmerzbuch. Und ein Angstbuch. Es handelt von der sozialen Katastrophe, die die ostdeutsche Gesellschaft seit 1990 prägt. Von der Welle rassistischer Gewalt, die Mauerreste überwand, Hunderte Leben forderte. Die den NSU-Komplex genauso hervorbrachte wie eine gesamtdeutsche rechtsextreme Jugendsubkultur. Deren nunmehr erwachsene, selbst oft Eltern gewordene Protagonisten bilden heute den harten Kern von Pegida und AfD. In Hoyerswerda, im September 1991, hatte – zumindest medial – alles mit dem Angriff auf vietnamesische Straßenhändler begonnen. Eine Meute Jugendlicher hetzte damals Menschen durch die Stadt. Belagerte das Vertragsarbeiterheim. Warf Brandsätze. Hunderte applaudierten. Ich erinnere mich an die Angst, die die Fernsehbilder in unseren Kinderzimmern auslösten. Dies war kein Ende, sondern ein Anfang – so viel war uns klar. Wir würden mitmachen oder wegrennen müssen. Binnen wenigen Wochen verwandelte sich unsere Gegend in eine national befreite Zone. Menschen anderer Hautfarben waren in Todesangst geflohen. In chaotischen Zeiten schien der piefige DDR-Ordnungswahn ins Völkische gewendet: Bloß nicht auffallen.

Sechsundzwanzig Jahre später, im Herbst 2017, las ich an einem brandenburgischen Gymnasium vor Schülern der 11. Klasse. Als ich fragte: „Rassismus, was fällt euch zu diesem Begriff ein?“, blickten Schüler wie Lehrer betreten auf ihre Schuhspitzen. Es gab nur eine einzige Nicht-Weiße im Raum. Zu Ende der Lesung, nachdem alle anderen gegangen waren, trat das Mädchen zu mir an den Tisch und sagte: „Ich weiß, was Rassismus ist.“ Eine Mitschülerin gesellte sich dazu. Das Mädchen duckte sich und verschwand. Vor ein paar Wochen traf ich einen jungen Bayern im Amadeu-Antonio-Zentrum Eberswalde. Er berichtete von einem Überfall auf seine Abiturfeier. „Die haben uns umzingelt und gesagt, wir sollen ihn ausliefern.“ Gemeint war ein dunkelhäutiger Mitschüler. Sie haben zu ihm gehalten. Und gemeinsam gebangt, bis endlich die Polizei vorfuhr.

Am selben Abend erzählt mir ein Student von seinem Bruder, den eine Gruppe Neonazis eines Tages halb totprügelte. Später habe er sich selbst einer solchen Gruppe angeschlossen. Das Romantische habe ihn angezogen, die „Erhabenheit“ völkischer Ideen. Am Ende unseres Gesprächs stand die Frage im Raum: „Hab ich letztlich nur mitgemacht, damit mir nicht dasselbe passiert wie meinem Bruder?“

So klingen die Sorgen der Bürger, die mir regelmäßig im Anschluss an Lesungen begegnen. Die tägliche Bedrohung hat in all den Jahren nicht aufgehört. Sie traf und trifft nicht-weiße Menschen, zivilgesellschaftlich Engagierte und schlicht: Unangepasste. Ich kenne Politiker, die hinter Stahltüren leben müssen, weil sie und ihre Familien permanent bedroht werden. Für die Anschläge auf Büros und Privatfahrzeuge zum Alltag gehören. Journalisten, die sprichwörtlich ihr Leben riskieren. Manche mussten aufgeben. Damit den Kindern nichts passiert. Warum sind deren Sorgen oder die der Väter, Mütter, Schwestern und Brüder der Opfer des NSU-Terrors weniger wert als die der Bürger in den Einwohnerversammlungen? Selbstverständlich gilt es, jeden Einzelnen zu betrauern, der durch Gewaltverbrechen ums Leben kommt. Wie aber kann es sein, dass in dem großen Diskurs, der derzeit im Land geführt wird, Neonazis und rechtsradikale Politiker – diejenigen also, deren Geschäft die Angst ist – diktieren, auf wessen Gefühle Rücksicht genommen wird? Wo ist der zuständige Minister, wenn ein Viertel der Bevölkerung von der erneuten Übernahme öffentlicher Straßen und Plätze durch Menschenjäger direkt betroffen ist? Auch zu seiner politischen Währung gehört sie längst – die Angst. Überall. Im Osten ist man nur schon länger an sie gewöhnt.

Es ist, als würde ein Film in Endlosschleife laufen. Und es ist natürlich nicht ausschließlich der Osten. Eben noch Solingen, Guben, Heidenau, Freital, Cottbus, Wurzen und immer wieder Dortmund. Diesmal Chemnitz. Bilder gehen um die Welt. Nazis am „Nischel“, wie der überdimensionale Marx-Kopf genannt wird. Jagdszenen vor Plattenbauten. Derweil streiten sich Twitterer und Talkgäste: Darf man das sagen? Dass sie jagen? Ob man darf oder nicht – es geschieht. Wer schützt Sozial- und Kulturprojekte, wer friedliche Demonstranten vor der massierten Wut derer, die „das Volk“ sein wollen? Wo bleiben Respekt und Anerkennung gegenüber antifaschistischer, aufklärerischer Arbeit, die im ganzen Land seit den Neunzigern fast ausschließlich ehrenamtlich geleistet wird? Wo stünden wir ohne sie? „Wir sind mehr“ ist ein schönes Motto. Aber sind wir es? Es geht längst nicht mehr um Meinungen, sondern um Verbrechen. Alternative Gesellschaftsentwürfe sind nötig, wenn wir das Fürchten wieder verlernen wollen.

Manja Präkels, geboren 1974 in Zehdenick, veröffentlichte vergangenes Jahr ihren autobiografischen Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß (Verbrecher Verlag)

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