Die moralische Wissenschaft

Transgender Warum ist die These neuerdings so beliebt, das Geschlecht sei ein Spektrum? Was sagt sie über unsere Gesellschaft aus?

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Geschlecht als Kontinuum: sind "weiblich" und "männlich" nur Endpole eines Spektrums?
Geschlecht als Kontinuum: sind "weiblich" und "männlich" nur Endpole eines Spektrums?

Zurzeit hört man immer wieder, es gebe nicht nur zwei Geschlechter, sondern ein ganzes Spektrum. Die alte binäre Sicht sei gestrig und durch neue Forschung widerlegt. Auch in renommierten Blättern wie Spektrum der Wissenschaft kann man diesen Paradigmenwechsel beobachten. „Gibt es mehr als zwei Geschlechter?“, fragt der Autor Olaf Hiort. Als die WDR-Sendung Quarks im Sommer über Intersexualität berichtete, war im Teaser zu lesen, dass das, was unser Geschlecht ausmache, vielfältig sei („Hormone, Chromosomen, Anatomie, Geschlechtsorgane oder unser Gehirn“). Diese These wurde in den sozialen Netzwerken begierig aufgegriffen. Die Einschätzung, es gebe Variationen - so häufig, dass einige Forscher das Geschlecht als Kontinuum betrachten, auf dem "weiblich" und "männlich" nur die Endpole seien, werden von einigen Wissenschaftlern als neuester Stand der Wissenschaft bezeichnet. Geschlecht ist plötzlich allein, was sich an der Oberfläche zeigt.

Interessant sind in dem Zusammenhang die Diskussionen in den sozialen Netzwerken, wo sich neue gesellschaftliche Entwicklungen früh abbilden. Vor allem auf Twitter werden solche Artikel gerne geteilt und als Beweis für einen Paradigmenwechsel der Biologie diskutiert. Anhänger der neuen Thesen sagen, das biologische Geschlecht in seiner Binarität sei eine willkürliche, soziale Kategorisierung. „Es ist ganz einfach“, war neulich zu lesen: „Menschen sind nicht, was ihre Geschlechtsorgane nahe legen. Menschen sind das Geschlecht, von dem sie euch sagen, dass sie es sind.“ Diese Absage an objektive Kriterien von Geschlecht ist symptomatisch für eine neue Art zu denken. Eine Fokussierung auf Merkmale bildet sich in der spätkapitalistischen Gesellschaft heraus, die die Wissenschaft durchdringt und im Spektrumsgedanken die Entsprechung findet.

Nur die Oberfläche zählt

Noch vor wenigen Jahren war es ganz einfach: Das Prinzip der geschlechtlichen Fortpflanzung, das sich im Zuge der Evolution herausgebildet hat, wurde klaglos auf den Menschen übertragen. Dass die Arterhaltung auf der Existenz von Keimzellen beruht, damit bei geschlechtlichen Lebewesen binär ist, dass dieses Prinzip sich in den unterschiedlichen Erscheinungsformen der beiden Geschlechter zeigt, ist zumindest gesellschaftlich wahrnehmbar nicht weiter hinterfragt worden.

Intersexuelle Formen wurden in diese Zweigliederung insofern eingegliedert, als dass sie Ausnahmen einer Regel darstellten, die im Begriff „Geschlecht“ sichtbar wurde. Die Uneindeutigkeit mancher Formen hatte das binäre Prinzip gestützt: Ausnahmen bestätigen die Regel, stellen das Prinzip nicht in Frage.

Im Zuge der neuen Idee eines Geschlechterspektrums jedoch gibt es nicht mehr die Ausnahmen einer Regel. Plötzlich gibt es nur noch Ausnahmen, die als gleichwertige Varianten gelten. Bei der Interpretation von Intersexualität kann man es besonders gut erkennen: stand einst im Fokus, dass die binäre Ordnung zum Zwecke der Fortpflanzung einer gewissen Fehleranfälligkeit unterliegt, werden aus Formen der Geschlechtsbildungsstörung nun im Rahmen eines neuen Verständnisses von Geschlecht unterschiedliche Geschlechter heraus gelesen, die die beiden "kulturell konstruierten" Geschlechter komplettieren. „Diese Varianten sind jedoch nicht krankhaft, sondern sollten als natürliches Spektrum der Geschlechtsentwicklung verstanden werden“, schreibt Olaf Hiort in der Spektrum der Wissenschaft.

Identität als Spektrum

Die These vom Geschlecht als Spektrum ist enorm attraktiv. Dass diese neuartige Sicht auf Geschlecht in den sozialen Netzwerken vor allem in links-akademischen Kreisen begeistert aufgenommen und geteilt wird, liegt an ihrem Potenzial, als Bindeglied zwischen Biologie und Geschlechtsidentität zu fungieren. Denn die Identität, vor allen Dingen die geschlechtliche, hat eine zentrale Stellung im neuen bürgerlichen Denken. Diese "Identität" lässt sich jedoch nur schwer fassen. Woher kommt dieses geheimnisvolle Wissen um Zugehörigkeit und was genau soll sie sein? Wie lässt sich eine Geschlechtsidentität beweisen? Wenn man nicht völlig schwammig und metapyhsisch argumentieren will, braucht man eine Entsprechung von Identität in der stofflichen Welt, der Biologie.

Und diese wird durch das Phänomen der Intersexualität hergestellt. Wer sich fragt, warum Intersexualität bei der Diskussion um Transgender so eine große Rolle spielt, findet den Grund in der Rolle, die der Intersexualität in der Transgender-Theorie zugedacht wird. Die erste Prämisse lautet: man merkt den Menschen die Intersexualität nicht immer an. Theoretisch könne also jeder Mensch beanspruchen, intersexuell zu sein. Prämisse zwei lautet, Geschlecht sei nicht erkennbar, da eine intersexuelle Variante vorliegen könne. Der Verdacht wird als besonders begründet dargestellt, wenn jemand optisch nicht dem Stereotyp entspricht. Oder Vorlieben hat, die nicht die eines "typischen Mannes" oder einer "typischen Frau" sind. Bei alledem wird Geschlecht nicht mehr als Fortpflanzungssystem betrachtet, das auf die Produktion kleiner oder großer Gomaden ausgelegt ist, sondern wird ausschließlich von seiner phänotypischen Gestalt her gedacht.

Transsexualität als intersexuelle Sonderform

Mit diesem Konstrukt lässt sich (scheinbar) auch die Geschlechtsidentität als biologisch und damit valide herleiten. Liest man sich auf Twitter ein, wo sich die Theorien entlang ihrer Kritiker aufbauen, sollen einige genetische, für die Geschlechtsausprägung zuständige chromosomale, hormonelle oder genetische Faktoren dazu führen, dass die gefühlte Identität nicht mit dem "zugewiesenen", womöglich (wer weiß das schon) intersexuellen Geschlecht übereinstimmt. Dass am Ende also ein "weibliches Gehirn" in einem "männlich gelesenen" Körper sitzt. Diese Person besitzt damit eine Trans-Identität. Auf Grundlage dieser Prämissen gibt es eine Vielzahl an geschlechtlichen Identitäten und damit Geschlechter. Die Anzahl dieser Geschlechter ist dabei völlig offen. Im Prinzip kann es so viele Geschlechter wie Menschen geben.

Verkürzt gesagt sollen also intersexuelle Varanten Ursache für die unzähligen Abstufungen innerhalb der Pole Weiblichkeit und Männlichkeit sein. Die sichtbare Oberfläche des Spektrums besteht aus einer Vielzahl an Vorlieben, Gefühlen, Einstellungen, Gewohnheiten, Verhaltensweisen, die durch die beiden Sterotypen von "purer" Weiblichkeit und "purer" Männlichkeit eingegrenzt werden. Diese sich daraus ergebenden kleinen Geschlechterschubladen haben zwar den materialistischen Background eines angenommenen "eigentlichen" biologischen Geschlechts. Dieses "eigentliche" Geschlecht ist indes ein großes Mysterium. Denn wenn der klare Bezug auf die Geschlechterklassen und damit eine prinzipielle Einordnung fehlt, zerfällt das Verständnis von Geschlecht in unzählige Details, in komplexe, womöglich noch unerforschte Vorgänge. So sind es in dieser Denkart allein die Vorlieben, Optik, Verhaltensweisen, die über das Geschlecht eines Menschen Auskunft geben können. Oder eben die Selbstauskunft, die eigene Aussage über die geschlechtliche Identität.

Hormone als Vermittler

Wenn in den sozialen Netzwerken von Transsexualität die Rede war, hieß es lange, da befinde sich eine Person im "falschen Körper". Inzwischen hat man mit der Einbindung der Biologie ein Erklärungsgebäude erschaffen, das die Klassifizierung der Körper generell in Frage stellt. Transsexualität, die ja auf klaren biologischen Definitionen von Mann und Frau beruht, um von einer Klasse in die andere transitionieren zu können, löst sich in desem Denkgebäude konsequenterweise genauso auf wie Mann und Frau als geschlechtliche Kategorie.

Dennoch sind künstliche Hormone und - weniger häufig - geschlechtsangleichende Operationen immer noch ein zentrales Thema. Zwar ist in der Logik von „Geschlecht ist ein Spektrum" auch eine Person mit Vollbart und Penis eine biologische Frau, sobald sie sich zu dieser erklärt. Denn ihr Identitätswunsch ist gemäß Twitter-Theorie schließlich Resultat einer "komplexen" biologischen Funktion. Aber ohne Anbindung an die optische Ebene scheint das Konzept doch nicht zu tragen.

Wie werden nun sichtbare Zeichen von Weiblichkeit oder Männlichkeit hergestellt? Hier kommen die Sexualhormone ins Spiel: als Vermittler zwischen der unsichtbaren genetischen Ebene und der körperlichen Erscheinung. Je mehr weibliche oder männliche Sexualhormone in einem Körper vorhanden sind, desto "weiblicher" oder "männlicher" verhält und empfindet sich demnach eine Person. Ihre Weiblichkeit ist damit ablesbar an ihrer Nähe zum weiblichen Stereotyp beziehungsweise an der Ferne zum männlichen. Die Vielzahl der daraus entstehenden "Geschlechter" kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Konzept nicht nur biologistisch, sondern eindimensional und eng ist. Während die "alte" Geschlechterdefiniton auf Grundlage von Gameten eine Frau burschikos, feminin, fruchtbar oder nicht fruchtbar, an Kleidern interessiert oder nicht sein lässt, ohne ihr den Status "Frau" abzuerkennen, ist sie in der Logik des Geschlechterspektrums nur dann eine Frau, wenn sich diese Weiblichkeit an der Oberfläche auch deutlich zeigt.

Allen Behauptungen der Transaktivisten zum Trotz, alle Geschlechter seien gleichwertig, wird durch das Spektrum Tür und Tor für ein Ungleichsystem geöffnet. Denn wer innerhalb des Spektrums dem Ideal Weiblichkeit in besonderem Maße nahe kommt, ist dementsprechend mehr Frau als eine Person, die dem Ideal auch gegenläufige Interessen pflegt. In dieser Weltanschauung gilt eine Person mit weiblichen Hormonen und/ oder weiblichen Vorlieben als besonders geeignet, über Weiblichkeit zu sprechen und dadurch Weiblichkeit zu definieren, während dies einer Frau, die dem Weiblichkeitsklischee weniger entspricht, nicht mehr so ohne weiteres zugestanden wird. Hierbei ist es unerheblich, ob diese weiblichen Hormone natürlich vorhanden oder künstlich zugeführt sind. Denn in der neuen postmodernen Logik ist die Nachahmung dem Original stets gleichgestellt.

Die Rückkehr der Stereotype zeigt auch: Die Idee eines Spektrums ist nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil es die links-bürgerliche Sehnsucht nach Vielfalt zu erfüllen scheint, ohne eine Überforderung auszulösen. Denn das Spektrum erschafft kein verwirrendes Chaos, sondern macht allenfalls die individuelle Vielfalt auf einer repräsentativen Ebene sichtbar, während es gleichzeitig jene Stereotype stärkt, die die Vielfalt einschränken. Doch nicht jedes individuelle Gefühl ist spektrumsgeeignet. Was ist mit der Individualität, die sich nicht in geschlechtlichen Schubladen abbilden lässt? Was ist mit Besonderheiten, die keine Fürsprecher haben, die es braucht, um eine neue Geschlechterschublade zu eröffnen? Was ist mit den leisen, unauffälligen Besonderheiten? Das Spektrum inszeniert einen glitzernden Regenbogen, der das Ordnungsbedürfnis der bürgerlichen Klasse nicht in Frage stellt.

Gleichberechtigung und Moral

Den größten Effekt, den diese Fokussierung auf geschlechtliche Merkmale besitzt, ist eine grundsätzliche Verwirrung darüber, was sich über "Geschlecht" überhaupt noch aussagen lässt. Während die Idee vom Geschlechterspektrum die neoliberale Illusion vermittelt, als könne jeder sein, was er wolle und als spiele das reproduktive Geschlecht bei dieser Erkennung des sogenannten wahren Geschlechts keinerlei Rolle, während also der evolutionsbiologische Zusammenhang von Geschlecht als zwar irgendwie vorhanden, aber für die Definition von Geschlecht als irrelevant verbrämt wird, entwickelt sich im Hintergrund ungestört die alte Machtverteilung zwischen Mann und Frau. Besonders gut zu sehen ist dies im Frauensport, der durch die Auflösung der Kategorien in Gefahr geraten ist. Zu sehen ist hier, was man sich leicht denken kann: nämlich, dass transidente Männer gegen Frauen auch dann im Vorteil sind, wenn sie sich entsprechend hormonell einstellen. Eine Frau ist eben mehr als ein Körper, durch den eine bestimmte Menge "Weiblichkeitsstoff" fließt.

Ist das der Grund, warum sich die Geschlechterspektrumsidee vor allem im akademischen linken Bürgertum so einer Beliebtheit erfreut? Dass Männer wieder Einfluss auf weibliche Räume erhalten, sobald sie sich dieser geheimnisvollen Weiblichkeit scheinbar selbst annähern? Vieles spricht dafür. Aber es gibt noch mehr Aspekte. Die Grundlage dieser postmodernen Wissenschaft ist ja, wie gezeigt wurde, die Gleichsetzung von Regel und Ausnahme. Sobald eine einzige Ausahme - Variante - ins Spiel kommt, wird das wissenschaftliche Modell, so valide es auch ist, generell hinterfragt. Eine einzige intersexuelle Variante stellt damit die Binarität scheinbar auf den Kopf und lässt die Varianten - die normale und die extrem seltene - "gleichberechtigt" nebeneinander stehen. Diese moralische Ebene von Gleichberechtigung und gleicher Repräsentanz drängt sich zunehmend in den wissenschaftlichen Diskurs. Inzwischen ist die Normalität generell unter Verdacht geraten, die als Diskriminierungswerkzeug wahrgenommen wird. "Willst du etwa sagen, Varianten seien abnormal?"

Klar ist daher: es geht auch, aber nicht "nur" um Frauen, die durch die Auflösung der Geschlechtsklassen ihren Sport und ihre exklusiven Räume verlieren. Wenn sich hier die Biologie dauerhaft einspannen lässt, um einer bestimmten moralischen Idee zur Wissenschaftlichkeit zu verhelfen, wird sich diese postmoderne Art der Begriffsverschiebungen und Umdeutungen auch auf andere Wissenschaftsbereiche ausdehnen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Manuela Branz

Autorin, Feminismus, Netzpolitik.

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