Eine Frage der Klasse

Pandemie Schulen wieder dicht machen? Die Wahl der richtigen Maßnahmen gegen Corona sagen immer auch etwas über die Gesellschaftsschicht aus, in der diese Entscheidungen gefällt werden. Das hat Folgen

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Schulschließungen stehen seit Beginn der Pandemie regelmäßig in der Kritik, tragen Kinder doch nachweislich nicht maßgeblich zum Pandemiegeschehen bei.
Schulschließungen stehen seit Beginn der Pandemie regelmäßig in der Kritik, tragen Kinder doch nachweislich nicht maßgeblich zum Pandemiegeschehen bei.

Foto: INA FASSBENDER/AFP via Getty Images

Es ist nichts Neues: Im linken Umfeld gibt es eine Schwäche für große Ideen. Einerseits ist das linke Milieu durch einen bodenständigen Pragmatismus und materialistische Analysen gekennzeichnet, die eine stetige Verbesserung der Lebensumstände „kleiner Leute“ zum Ziel haben. Die Politik der Gewerkschaften sowie klassische sozialdemokratische Politik repräsentieren diese Richtung. Andererseits schwang bei der Linken immer schon der Weltrettungsgedanke mit. Schon lange ist diese Präferenz ins kulturell einflussreiche links-liberale Bürgertum gelangt.

Auch die Corona-Politik spiegelt das wider. Von Anfang an hatten es Maßnahmen schwer, die keine große Idee stützten, sondern einfach nur pragmatische, unvollkommene Möglichkeiten waren, die Inzidenzen zu senken. Die Maskenpflicht beispielsweise wurde lange abgelehnt. Masken seien problematisch und verführten zu falscher Sicherheit, hieß es 2020. Sie verführen zum Leichtsinn, da man nun glaube, sich gefahrlos treffen zu können. Falsch getragen habe die Maske keinen Nutzen. Dann lieber keine Maske, hieß es im Frühjahr 2020. Bis sich gegen den Widerstand vieler politischer Akteure und beratender Wissenschaftler am Ende doch der Pragmatismus durchgesetzt hatte.

Ebenso unbeliebt war und ist es, das Testen als Maßnahme zu etablieren. Testen ist kein Instrument, das sich eignet, uns aus der Pandemie zu erlösen, es kann nur die Rolle haben, andere Maßnahmen zu unterstützen. Niemand kann erwarten, dass wir uns in den nächsten Jahren jeden Tag testen lassen, schon allein deshalb ist diese Methode nicht als Langzeitmaßnahme sinnvoll. Testen zu etablieren, ist damit genau wie hygienische Maßnahmen und Maske tragen ein pragmatischer Ansatz, der aber äußerst wirkungsvoll ist und immerhin mit dazu beigetragen hat, dass wir den Sommer 2021 recht entspannt erleben durften. Und dass wir nun, nachdem im November 2021 die Schnelltests in Testzentren wieder kostenfrei wurden, eine gewisse Kontrolle über das Infektionsgeschehen zurückerobern konnten. Dennoch ist und bleibt die Maßnahme unbeliebt.

Ungeliebter Pragmatismus

Hingegen wurden bei vielen Wissenschaftlern nach „Flatten the curve“ noch im Herbst 2020 die Rufe laut, durch eine Solidarität aller das Virus zu besiegen. Während „Flatten the curve“ noch eher einen pragmatischen Ansatz verfolgte und einfach das Ziel hatte, durch Kontaktbeschränkungen und Hygienemaßnahmen das exponentielle Wachstum der Fallzahlen zu stoppen, war die Kampagne Zero Covid idealistischer. Ihr Ziel, über alle europäischen Länder hinweg gemeinschaftlich eine radikale Kontaktreduktion zu verwirklichen, fußte auf der Forderung, dass die Solidarität über das Diktat von Wirtschaftlichkeit siegen sollte. Über mehrere Monate hinweg sollten wirtschaftliche Interessen untergeordnet werden. Kapitalismuskritik und der Gedanke an eine weltumspannende Solidarität sollten scheinbar immergültige Marktgesetze außer Kraft setzen. Eine alte linke Utopie, deren Realisierung unerwartet in Greifweite schien.

Von der Frage nach der Wirksamkeit der Maßnahmen mal abgesehen - um die es hier nicht gehen soll - haben die großen Ideen eine Gemeinsamkeit: sie erfordern, dass sich ein ganz bestimmtes menschliches Verhalten und eine bestimmte Weltanschauung kollektiv durchsetzen lässt. Große, auf Solidarität fußende Ideen verlangen, dass sich eine Mehrheit an die Regeln hält. Und dass reale Nachteile, die daraus erwachsen können, mehr oder weniger klaglos hingenommen werden. „Jeder kann das“, lautet eine oft gehörte Meinung. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.

Das Problem ist nicht nur, dass Menschen nicht planmäßig funktionieren und Ideen an der banalen Unvollkommenheit der menschlichen Natur scheitern: an ihrem Egoismus, an ihren Ängsten, an ihrer Bequemlichkeit, an ihrer Fähigkeit, zu verdrängen. Sondern dass die materiellen Bedingungen, die für die großen Idee von Solidarität nötig sind, auch sehr ungleich verteilt sind. Denn klar ist: einigen Menschen fällt diese Form der Solidarität leichter als anderen. Nicht etwa, weil sie die besseren Menschen wären. Sondern weil ihr Lebensstil besser kompatibel ist mit der Forderung, Wochen oder Monate überwiegend zu Hause zu verbringen. Weil ihre Wohnung größer sind, Gärten vorhanden, die Kinderbetreuungsfrage grundsätzlich geklärt ist. Weil psychische Ressourcen leichter verfügbar und Existenzsicherheiten gegeben sind. Weil sie sich manchmal von der notwendigen Hinwendung zum Digitalen und der gelockerten Home Office Regelung auch Vorteile versprechen.

Regeln für Privilegierte

Es lässt sich nicht verstecken, dass viele Gestalter der Gesellschaftsschicht entstammen, die die Diskurse überwiegend bestimmt. Nicht zuletzt deshalb mangelt es an Verständnis dafür, warum manche Ideen nicht auf die erhoffte Resonanz stoßen. Beim emotionalen Thema Schulschließungen tritt diese Dominanz besonders gut zutage. Schulschließungen werden genau wie Zero Covid und die Impfung in hohem Maße moralisch diskutiert. Warum ist diese Maßnahme bei einem Teil der Wissenschaftler sowie vielen Menschen beliebt? Obwohl die Rolle der Kinder im Infektionsgeschehen, wie auch Christian Drosten einräumen musste, eher untergeordnet ist, und obwohl eine niedrige Inzidenz auch anders als durch Schulschließungen herzustellen wäre, gelten sie vielen als Maßnahme, die allen anderen vorzuziehen sei. Auch dies hat mit der moralischen Ausrichtung einer Gesellschaftsschicht zu tun, die in unserer spätkapitalistischen Gesellschaft eine gewisse Meinungsführerschaft errungen hat.

Schule ist im links-liberalen Bürgertum nicht unumstritten. Schon gar nicht die marode, normale Schule, auf der nicht das „selbstbestimmte“ Lernen an erster Stelle steht, sondern die Anpassung an das allgemeine, von vielen Eltern als zu niedrig empfundene Niveau. Die „alte Schule“ im Sinne einer Paukanstalt also, wo die Individualisierung noch nicht weit vorangeschritten ist. Wer nicht auf Privatschulen ausweicht, bevorzugt Schulen mit einem guten Ruf. Dennoch bleibt die Kritik und viele Eltern genießen es, durch das Home-Schooling mehr Einfluss auf die Lernfortschritte ihrer Kinder zu haben. Die Skepsis, den eigenen Nachwuchs einer staatlichen Anstalt anzuvertrauen und die Bildung der Kinder aus der Hand zu geben, ist im deutschen Bürgertum (auch und gerade im linken) stärker ausgeprägt als beispielsweise in Frankreich. Viele Eltern der akademischen Mittelklassen präferieren ohnehin die für den eigenen Nachwuchs als progressiv geltenden Online- oder Hybrid-Unterrichtsformate, von der insbesondere jene Kinder profitieren, die über die sogenannte intrinsische Motivation verfügen, also gerne eigenständig und aus eigenem Antrieb lernen. Wenig, zufällig also oftmals Kinder der akademischen Mittelschicht.

Wer sehr schnell dabei ist, Schulschließungen als alternativlos zu postulieren – und die Senkung der Inzidenz durch Maßnahmen für Erwachsene gar nicht erst als Option zu berücksichtigen, wird in der Regel nicht von Wohnraumproblemen, Existenzsorgen oder Bildungsferne betroffen sein. wird kurzum eher privilegiert sein. Die mancherorts schnell geäußerte, fast begeisterte Forderung nach Schulschließungen bzw. Distanzunterricht ist ein gutes Beispiel, an dem sich erkennen lässt, wie sehr solche klassenbedingten Einschätzungen mit hineinspielen, wenn um die Gestaltung des Spielraumes geht, der bei der Wahl der „richtigen“ Maßnahmen stets vorhanden ist. Wie eigene Vorteile manchmal sogar heimlich zum moralischen Maßstab werden.

Spielverderber

Der Idealismus der links-bürgerlichen Klasse fußt auf einer materiellen Unabhängigkeit, hat aber auch ein ideologisches Gerüst. Es vereint das bürgerliche, leistungsorientierte Denken mit der Kraft linker Utopie. Diese bürgerliche Neuinterpretation der großen Ideale hat einen Vorteil: Hat man das allgemeine, zugrunde liegende Problem erst einmal gelöst, lösen sich gleich auch alle anderen, nachgeordneten. Kollateralschäden müssen in die Überlegung also nur insofern miteinbezogen werden, als dass sie unvermeidlich sind.

Diese Schäden herauszustellen und zu erwähnen, erscheint in dem Diskurs, der sich gerade auch in der öffentlichen Netzwerken abzeichnet, daher als kontraproduktiv und die Beschäftigung damit als unmoralisch. Dementsprechend findet das Schicksal der Kinder, die durch Schulschließungen endgültig den Anschluss verlieren und soziale, psychische und generell gesundheitliche Probleme entwickeln, in diesem Kontext kaum Erwähnung. Das Problem bestehe auch unabhängig von Corona, heißt es in den sozialen Netzwerken oft. Als ob dann eine Zuspitzung keine Rolle mehr spielt.

Die Weltrettungssolidarität der abgesicherten, leistungsorientierten bürgerlichen Klasse unterscheidet sich damit wesentlich von einem Solidaritätsgedanken, der auf Mitleid fußt. Man macht sich in strengen, moralischen Zero Covid Kreisen nicht beliebt, wenn man sich als „Spielverderber“ outet, der Verständnis mit jenen hat, die um ihre Existenz bangen. Mit denen, die auf der Kippe sind und Angst haben, abzurutschen. Wer es beispielsweise auf Twitter wagt, Solidarität mit den Kindern zu zeigen, die durch den Distanzunterricht abgehängt werden, oder wer allgemein Schäden des letzten Lockdowns wagt zu thematisieren, kommt schnell mit dem Dogmatismus einer Klasse in Berührung, die diese Probleme nicht wahrnimmt, weil sie sie nicht kennt. Oder zwar kennt, aber bewältigen kann. Wie man am Beispiel der Schulschließungen sehen kann, kommt noch hinzu, dass viele Angehörige der linken akademischen Mittelklasse von den altruistischen, solidarischen Zugeständnissen ans System zum Teil sogar profitieren.

Man muss sich den sympathischen, idealistischen, mit den Werten des neuen Bürgertums kompatiblen Anti-Kapitalismus also schlicht auch leisten können. Die Vorliebe für bestimmte Corona-Maßnahmen – und die Ablehnung anderer – sind eben nicht nur eine notwendige Folge aus wissenschaftlichen Fakten, sondern immer auch Klassenpolitik.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Manuela Branz

Autorin, Feminismus, Netzpolitik.

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