Das Grauen des Holocaust wurde nicht nur möglich durch jene, die aktiv daran mitwirkten. Die Schrecken jener Zeit wurden auch zugelassen durch das Schweigen der Vielen. Diese Wahrheit ist zugleich so einfach und so unbequem, dass sie zu selten formuliert wird. Doch es ist wichtig, sie sich bewusst zu machen, weil es bedeutsam ist für den Umgang mit Erinnerung: Es genügt nicht, das Gewissen mit dem Gedenken an Jahrestagen zu beruhigen. Erinnerung muss vielmehr als aktiver Prozess gestaltet und in sämtliche Lebensbereiche hineingetragen werden.
Eberhard Schulz ist einer, der das begriffen hat. Der gesellschaftliche Raum, in dem er sich für aktive Erinnerungskultur einsetzt, ist der Fußball. Begonnen hat das 2004, als er auf eine Aktion in Italien aufmerksam wurde. Riccardo Pacifici, damals Sprecher der jüdischen Gemeinde in Rom, regte zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine Initiative in der italienischen Fußball-Liga an, bei der unter dem Motto „Tag des Erinnerns, um nicht zu vergessen“ in der Seria A und der Seria B gegen Rassismus und Antisemitismus demonstriert wurde. So entstand 2004 hierzulande die Initiative „!Nie wieder – Erinnerungstag im deutschen Fußball“, die sich auf die Botschaft der Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau beruft.
Der Fußball hat die Kraft, die Aktion in die Gesellschaft zu tragen und stärker auf das Thema aufmerksam zu machen – davon sind die Unterstützer des Bündnisses überzeugt. Der Fußball trägt aber auch eine besondere Verantwortung, denn einige seiner Akteure haben sich in der NS-Zeit mitschuldig gemacht durch ihre Taten, ihre Worte, ihr Schweigen. Zu ihnen zählt Felix Linnemann, von 1925 bis 1945 Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und als SS-Obersturmbannführer direkt an der Verfolgung der Sinti und Roma beteiligt. Ihrem Schicksal gilt an diesem 16. Erinnerungstag besondere Aufmerksamkeit. In der Stadiondurchsage, die die Initiative erarbeitet hat, heißt es unter anderem: „Auch aus der Fußballfamilie wurden Menschen von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet. An diesen Verbrechen hatte auch der Fußball seinen Anteil. Statt sie zu schützen, schlossen die Vereine ihre jüdischen und kommunistischen Mitglieder aus. Die Schuld der Preisgabe wird unvergessen bleiben.“ Schätzungen gehen davon aus, dass europaweit während der NS-Zeit etwa 500.000 Sinti und Roma ermordet wurden, mehr als 21.000 allein in Auschwitz.
Der Täter Felix Linnemann
Bereits im Jahr 1933 wurden auch Sinti und Roma auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwangssterilisiert, mit Verkündung der Nürnberger Rassengesetze waren ihre Rechte beschränkt. „Zu den artfremden Rassen gehören in Europa außer den Juden regelmäßig nur die Zigeuner“, verfügt Reichsinnenminister Wilhelm Frick 1936. Es begann die systematische Erfassung, gefolgt von der Deportation und Vernichtung. In Hannover zeichnete DFB-Präsident Felix Linnemann einen Erlass zur Überführung der Minderheit in die KZs. Auf der Homepage des Verbandes muss man sich noch heute durch mehrere wohlklingende Absätze über seine Person lesen, bis der Nationalsozialismus zur Sprache kommt. Seine eigene Verantwortung, die der Historiker Hubert Dwertmann erforschte, wird mit wenigen Sätzen nur gestreift.
Manche Wörter lassen das Grauen nicht ahnen, das sie beschreiben. Porajmos, für Verschlingen oder Zerstörung, wird der Völkermord an den Sinti und Roma vielfach bezeichnet. Wobei sich gegen den Begriff von einigen Seiten kritische Stimmen erheben, die Samudaripen empfehlen, für vollständigen Mord, Mord an allen. Sie sollten ebenso ausgelöscht werden, wie die Juden. Bis heute kämpft die Minderheit gegen die Vernachlässigung ihres Leidens in der politischen und gesellschaftlichen Erinnerung. Erst im Jahr 1982 benannte Bundeskanzler Helmut Schmidt klar den Völkermord an den Sinti und Roma, die lange auf diese Anerkennung gewartet hatten.
Choreo in München
Auch weil ihr Schicksal im Holocaust-Gedenken der Deutschen vielfach bis heute eine kleine Rolle spielt, ist die Aufklärungsbereitschaft aus der Minderheit selbst heraus groß. Anlässlich des diesjährigen Erinnerungstages wird der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland, Romani Rose, vor dem Spiel des FSV Mainz 05 gegen den FC Bayern München an diesem Samstag im Stadion eine Ansprache halten. Die Bayern- und Schalkespieler haben bereits beim Heimspiel gegen den FC Schalke 04 vergangenes Wochenende hinter einem Schild mit der Aufschrift „We remember“ posiert, Fans erinnerten mit einer großen Choreo an Hugo Railing, Bayern-Mitglied und -Ältestenrat, 1942 von den Nazis im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Zeitgleich aber trugen die Bayernspieler während der Partie einen Trauerflor für den Verstorbenen Walter Fembeck, ehemals Geschäftsführer des Clubs, obwohl der Wiener nach dem „Anschluss“ Österreichs der Waffen-SS beitrat und Oberscharführer wurde, wie der Historiker Hans Woller herausfand. Neben der zurückhaltenden Linnemann-Aufarbeitung ist dies ein weiteres Beispiel dafür, dass Verbände und Vereine bei dem Thema dem Einsatz der Fans deutlich hinterherhinken.
Weder unter Fans noch sonst herrscht aber Konsens, dass es notwendig ist, die Erinnerung nach wie vor hochzuhalten. Im gesellschaftlichen Klima der letzten Jahre werden Stimmen lauter, die meinen, es müsse „mal gut sein“. Geschichte, so die Behauptung, dürfe irgendwann ruhen. Perfiderweise wird, um das zu untermauern, angeführt, die Opfer jener Zeit seien größtenteils ohnehin längst tot. Ist aber mit ihrem Tod das Leiden beendet? Sinto Oswald Marschall schüttelt ablehnend den Kopf. Der ehemalige Boxer ist seit Jahren in Aufklärungs- und Bildungsarbeit für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma unterwegs, hält Vorträge, moderiert Fragerunden. Im Rahmen des Erinnerungstages hat er auf Einladung der Hobbykicker des FC Ente Bagdad im Fanhaus Mainz die Ausstellung Abseits im eigenen Land – Sinti und Roma-Sportler eröffnet.
Die Geschichte Oswald Marschalls
Der 1954 geborene Mindener boxte von 1971 an in der deutschen Nationalmannschaft, sein klares Ziel war Olympia 1976 in Montreal. Von insgesamt 148 Kämpfen verlor er nur elf, dennoch wurde ihm schließlich mitgeteilt, für die nahende Olympiade fehle ihm die Erfahrung. Mit nur 22 Jahren hörte Marschall frustriert auf zu boxen. „Damals habe ich es nicht verstanden. Heute, mit den Erfahrungen, die ich gemacht habe, bin ich sicher: Niemand wollte, dass Deutschland von einem Sinto vertreten wird.“ Marschall erzählt emotional, aber ohne Bitterkeit. Sein Credo ist denkbar einfach: „Wir wollen doch alle miteinander auskommen.“ Deshalb versucht er, auf beiden Seiten um Verständnis füreinander zu werben. Am liebsten mit Geschichten aus dem Leben. Wie zum Beispiel der, wieso Sinti-Eltern oft vor Klassenfahrten zurückschrecken.
Wie solle Integration gelingen, heiße es seitens der Schulen, wenn sich eine Seite so verweigere. Marschall ist ein gemütlicher Mann. Er redet sehr leise und sagt: „Wenn ich laut spreche, klingt das schnell böse.“ Es liege an seiner Masse. Er lacht und sein Bauch, auf dem er die großen Hände abgelegt hat, bewegt sich dabei auf und ab. Marschall ist abgeschweift, das passiert ihm manchmal, nun besinnt er sich und fragt: „Wieso muss ich immer noch von Integration reden? Meine Leute sind schon seit Hunderten von Jahren hier.“ Dieser Aspekt ermüdet ihn.
Die alte Angst
Aber zurück zu den Klassenfahrten. Er beugt sich vor und erzählt die Geschichte eines nahen Verwandten. Der saß in seiner Schulklasse, als die Soldaten durch die Schulflure stürmten, um nach Juden, Sinti und Roma zu suchen, sie mitzunehmen. Vielleicht hat er versucht, sich hinter einem Buch zu ducken. Vielleicht hat er möglichst unbeteiligt aus dem Fenster geschaut. Sicher hat er große Angst gehabt. Am Pult stand sein Lehrer und deutete auf den Jungen, so wie damals viele Menschen auf Juden, auf Sinti oder Roma deuteten: Das ist einer von ihnen.
So kam der Junge ins KZ. Er überlebte den Krieg. Später gründete er eine Familie und wie alle, die unter den fürchterlichen Schrecken dieser Zeit gelitten hatten, versuchte er, zu vergessen. Als sein eigener Bub eingeschult wurde, war er dabei, stolz, in der Aula seiner alten Schule. Bis zu dem Moment, als der Direktor ans Mikro trat und er in ihm den Mann erkannte, der ihn damals, vor all der Zeit, verraten hat. Oswald Marschall setzt an dieser Stelle eine Pause. Aufmerksam sieht er in die Gesichter seiner Zuhörer*innen. „Ist das zu fassen? Dass er einfach weiter an der Schule war, sogar als Direktor!“ Der Mann sei auf die Bühne gestürmt und habe seinen Jungen mitgenommen. Die alte Angst, sie war in diesem Moment neu aufgebrochen.
„Viele verstehen nicht, wie es uns in den Knochen steckt,“ sagt er. Auch einige Zuhörer*innen schüttelten genervt die Köpfe, wenn er versuche, die Zusammenhänge zu erklären. „Sie sagen: Ihr wart doch nicht dabei.“ Das Verständnis dafür, wie Angst und Trauma von einer Generation zur nächsten weitergereicht werde, habe er selbst erst entwickelt. Als er klein war hat sein Vater, geprägt vom Krieg, den Kindern befohlen, sich im Auto zu ducken, sobald er Polizei sah. „Er hatte Angst, dass sie uns holen.“ Einmal erzählte Marschall die alte Geschichte vor Publikum und seine Tochter kam später zu ihm und sagte: „Papa, das hast du mit uns doch auch gemacht.“ Er habe sich daran nicht erinnert, aber begriffen: So tief stecken die alten Ängste, dass er noch Jahrzehnte nach dem Krieg die Schutzmaßnahmen der Eltern nachahmt. „Wie soll das Erinnern also vorbei sein können, wenn Angst und Schrecken immer noch lebendig sind?“
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