Die politische Dimension der Ausgangssperre

Pandemisches Regieren Ein herrschaftskritischer Kommentar über das politische Instrument der Ausgangssperre und die Konsequenzen für Staat und Gesellschaft

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Die politische Dimension der Ausgangssperre

Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

Es ist Anfang April und die Zahl der nachgewiesenen Virusinfektionen nimmt seit einigen Wochen wieder stark zu, sodass deutschlandweit wieder nächtliche Ausgangssperren greifen. Lockdown und Ausgangssperre stellen seit gut einem Jahr dominante staatliche Instrumente der Viruseindämmung dar, ohne die es laut politischen Entscheidungsträger:innen zu einem „totalen Kontrollverlust“ käme. Im großen Stil ignoriert wird nach wie vor die Beobachtung, dass diese Instrumente weniger die Bevölkerung vor dem Virus schützen, als Staaten vor dem eigenen Versagen im Umgang mit der Pandemie. Die Covid-19-Pandemie ist ein virologischer Fakt, das Virus gefährdet die Gesundheit und das Wohlergehen vieler Menschen. Ebenso ist die Pandemie ein politischer Fakt, weil sie sämtliche sozialen und gesellschaftliche Beziehungen grundlegend verändert. Daher muss der politische Umgang mit der Pandemie immer wieder neu hinterfragt und diskutiert werden.

Unabhängig davon, ob jener Kontrollverlust nicht schon längst eingetreten ist, werden nächtliche Ausgangssperren genutzt, um unser Leben auf die Angst vor dem Virus zu reduzieren und zugleich die staatliche Überwachung aller gesellschaftlichen und privaten Aktivitäten zu legitimieren. So bleibt die Sprache der Regierung auch im zweiten Jahr des pandemischen Ausnahmezustandes von Angst durchdrängt. Denn als unumstrittene Redeführerin dieser Zeit, liegt es an der Regierung die Gesellschaft zu disziplinieren. Und das funktioniert nach wie vor recht gut, da die Bevölkerung zu großen Teilen als echo chamber der Regierenden fungiert, welche das Mantra der Verhinderung des Todes um jeden Preis unreflektiert nachspricht. Doch Leben und Überleben unterschieden sich in ihrer Qualität. Die Bevölkerung legitimiert durch ihr mehrheitlich widerstandsloses Verhalten die zunehmende Polizierung unseres Zusammenlebens.

Was Ausgangssperren mit Militärdiktaturen zutun haben

Die nächtliche Ausgangssperre ist ein staatliches Instrument der Einsperrung von Individuen, welches vor der Covid-19-Pandemie fast ausschließlich in Militärdiktaturen und während kriegerischer Auseinandersetzungen angewendet wurde. In einem Krieg befinden wir uns glücklicherweise nicht, auch wenn die Sprache einiger Politiker:innen manchmal den Anschein dessen erweckt. Bedienen sich demokratisch gewählte Regierungen militärischen Mitteln, sollten wir uns fragen, ob diese tatsächlich zur Eindämmung des Virus geeignet sind. Hier zeigt sich ein eher diffuses Bild. Verschiedene wissenschaftliche Studien über die Effektivität von Ausgagssperren gelangen zu unterschiedlichen Ergebnissen; doch was sie vereint ist die Annahme, dass Ausgangssperren alleine kaum Wirkung entfalten, sondern allenfalls in Kombination mit anderen politischen Maßnahmen zu einer Reduzierung des Infektionsgeschehens führen. Folglich lassen sich Ausgangssperren eher als Herrschaftsinstrument begreifen, welches den Privat- und Regenerationsbereich der Bevölkerung tiefgreifend reguliert und unerwünschtes Verhalten sanktioniert ohne die Leistung des Wirtschaftssektors zu gefährden. Rufen wir uns an dieser Stelle in Erinnerung, dass Versammlungen mit max. fünf Personen aus höchstens zwei Haushalten sowieso untersagt sind und weder Kneipen noch andere öffentliche oder kulturelle Orte geöffnet sind - an welcher Stelle greift dann die Ausgangssperre? Was untersagt sie, was nicht sowieso schon verboten ist und die Verbreitung des Virus begünstigt?

Es ist anzunehmen, dass die Bedeutung dieses politischen Instruments weniger in praktischen Konsequenzen als in seiner psychologischen Wirkung liegt: Ausgangssperren zielen bewusst auf das Gefühl des Freiheitsentzugs. Ausgangssperre, das klingt sowohl verbal als auch realpolitisch nach Gefahr. Und Gefahr wollen wir vermeiden. Besonders in einer Gesellschaft, die das Überleben selbst zum höchsten, politischen Ziel erklärt hat.

Gesucht: Projektionsfläche einer verfehlten Corona-Politik

Die (Wieder-)Einführung der Ausgangssperre gelingt nicht reibungslos. Mangels diskursiver Überzeugungskraft muss die Ausgangssperre daher emotional legitimiert werden. Und das geschieht vor allem auf dem Rücken junger Menschen. Wie ein Jahr Covid-19 zeigt, wählen die Regierenden immer wieder junge Menschen als Projektionsfläche der verfehlten Corona-Politik aus. Nicht Großraumbüros, Fabriken oder überfüllter Nahverkehr sind diesem Narrativ zufolge für die Ausbreitung des Virus verantwortlich, sondern angeblich rücksichtslose und egoistische jungen Menschen, die nicht am Schutz älterer Bevölkerungsgruppen interessiert seien. Sie würden nun wieder regelmäßig illegale Partys feiern oder bei frühlingshaften Wetter die Parks der Städte belagern. Demnach sind also weder die neue Virusvariante, ein halbherziger und annähernd halbjähriger Lockdown, die Privatisierung des Gesundheitssektors noch neoliberales Regieren Auslöser der „dritten Welle“ der Pandemie, sondern junge Erwachsene und ihr ausgelassenes Partyleben. Diese Erzählung ist schlichtweg falsch. Darüber hinaus lenkt sie von den besorgniserregenden mentalen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Pandemiemanagements auf diese Altersgruppe ab.

Meiner eigenen Beobachtung nach sind es vor allem junge Erwachsene, die seit 12 Monaten fragwürdig diszipliniert social distancing betreiben, sich in ihren WGs isolieren, Masken tragen und auf Familienfeiern sowie größere Zusammenkünfte unter Freund:innen verzichten. Und das, obwohl das gesamte soziale Gefüge dieser Altersgruppe zusammengebrochen ist: Schule und Universität finden digital statt; öffentliche Orte und Sportstätte sind nach wie vor geschlossen; Jobs, welche typischerweise von jungen Menschen ausgeführt werden, gibt es derzeit kaum; Partys finden nicht statt; NGO-Arbeit ist in den digitalen Raum verlegt worden. Darüber hinaus, wird diese Altersgruppe bis zum Schluss auf eine Impfung warten. Wir sollten nicht vergessen, dass Beziehungsaufbau und das Einbringen in gesellschaftliches Leben wichtige Entwicklungsschritte junger Erwachsener darstellen und dass die realpolitische Situation des letzten Jahres dieses entwicklungspsychologische Wissen weitgehend ignoriert.

Es macht wütend, wieder mit einer Ausgangssperre konfrontiert zu sein, deren Effektivität vor allem psychischer Natur ist; doch noch wütender macht das Scapegoating einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Dem rechtskonservativen Staat getreu, bilden junge, politisch «eher linke» (eine diffuse politische Einordnung, die soviel heißt wie: links einer rechten Mitte) und migrantisch gelesene Menschen das Feindbild der Herrschenden und die Projektionsfläche einer verfehlten Corona-Politik.

„Triftige Gründe“ oder: Wer darf nachts vor die Tür gehen?

Gehen wir nun einen Schritt weiter. Neben jungen Erwachsenen trifft die Ausgangssperre besonders jene Menschen, die nicht in festen Strukturen wie Kernfamilien oder monogamen Beziehungen leben. Und Arbeiter:innen, die sich nach einem langen Arbeitstag vielleicht noch gerne mit einer befreundeten Person getroffen hätten. Zum Ausgleich. Die Pandemiepolitik reproduziert ein bürgerliches Bild von Privatleben, das keine Luft für prekarisierte Menschen oder alternative Lebenskonzepte übrig lässt. Wenn ich bis spät abends arbeiten musste und mir nach einem langen Arbeitstag noch einmal die Füße vertreten möchte, gilt dies nicht als «triftiger Grund» um vor die Tür zu gehen. Wenn ich nach einem nervenzehrenden Streit meinem Gegenüber aus dem Weg gehen oder Gewalt entfliehen muss, gilt dies genauso wenig als «triftiger Grund» um vor die Tür zu gehen.

Darüber hinaus spielt die nächtliche Ausgangssperre der Repressivität von Polizei- und Ordnungsbehörden in die Hände. Dass die Polizei ein strukturelles Gewalt- und Rassismusproblem hat, sollte nach einem Jahr fast täglichen Bekanntwerdens rechtsextremistischer Netzwerke innerhalb der Polizei offensichtlich sein. Dass migrantisch gelesene Menschen täglich mit der zum Teil tödlichen Gewalt von Ordnungskräften konfrontiert sind, ebenfalls. Dass linke Aktivist:innen mit unangemessener staatlicher Gewalt konfrontiert sind, während Rechtsextremist:innen auf offener Straße protestieren, ist zynischerweise fundamentaler Bestandteil der deutschen Demokratie. Gegen all diese Gewalt hilft oft nur Öffentlichkeit. Doch was passiert, wenn Menschen zu Opfern willkürlicher Polizeikontrollen werden und dabei nicht beobachtbar sind, weil sich kaum jemand mehr draußen aufhält? Die gespenstische Ruhe abendlicher und nächtlicher Straßen während der Ausgangssperre ist eine zusätzliche Gefahr für all jene, die von den Ordnungskräften als Dorn im Auge betrachtet werden. Die Überprüfung «triftiger Gründe» für das Verlassen der Wohnung liefert diese den individuellen Ressentiments der Ordnungskräfte aus. Die Dunkelheit der Nacht schützt die Gewalt. Das kennen von Rassismus, Diskriminierung oder sexuellen Übergriffen betroffene Menschen zu gut.

Lokale Solidaritätsnetzwerke und pandemische Solidarität

Nach annähernd 5 Monaten Dauer-Lockdown ist offensichtlich, dass weder ein halbherziger Lockdown noch eine nächtliche Ausgangssperre effektive Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie darstellen. Vielmehr sind sie Zeichen autoritären Regierens nach dem Prinzip „es gibt keine Alternative als dieses oder jenes repressive Instrument“ und Präventivmaßnahmen, um den öffentlichen Raum trotz Frühlingswetter unter Kontrolle zu bringen. Darüber hinaus zeigt eine herrschaftskritische Betrachtung des politischen Umgang mit der Pandemie auf, dass Staaten ihre schwindende Macht über die Gesellschaft nur mit zunehmender Gewalt durch Polizei und Ordnungsbehörden erhalten können [1]. Ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft mimt diese staatliche Gewalt nach (z.B. in Form von antisemitischen Verschwörungsideolgien innerhalb der Querdenken-Bewegung. Ein anderer Teil der Gesellschaft ist in Gleichgültigkeit und Ohnmacht gefallen und reproduziert das staatliche Mantra von Schutz durch Isolation und gesellschaftliche Atomisierung, welches zur Vereinsamung Vieler führt und der zukünftigen staatlichen Überwachung und Steuerung des (Privat-)Lebens einen fruchtbaren Boden bereitet. In diesem Sinne lässt sich auch die Permanenz des Ausnahmezustands als neue Regierungsform nicht länger glaubwürdig verschleiern.

Solange politische Verantwortungsträger:innen Entscheidungen über und nicht mit der Bevölkerung treffen und diese sich wiederum spalten und disziplinieren lässt, solange muss das autoritäre Regieren der Pandemie angeklagt werden. Es mangelt noch immer an gemeindebasierenden, basisdemokratischen Versuchen der Eindämmung des Virus, welche die gesundheitliche wie mentale Genesung von Mensch und Gesellschaft zum Ziel haben. Wie das Autor:innenkollektiv Colectiva Sebrar mit dem Buch Pandemic Solidarity: Mutual Aid during the Covid-19 Crisis aufgezeigt hat, wurde das (Über-)Leben der Menschen bisher nicht durch institutionelle Politik, kapitalistische Märkte oder Polizei- und Ordnungsbehörden gesichert, sondern durch Gemeinschaft, lokale Solidaritätsnetzwerke und Fürsorge.

Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, das - unter den Bedingungen der Freiheit - zu gegenseitiger Hilfe und fürsorglichen Beziehungen neigt. Das sollten wir uns immer wieder verdeutlichen. Auch in Hinblick auf die Wiedereinführung von Ausgangssperren.

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[1] Herrschaftstheoretisch ist jener Staat ideal, der aufgrund äußerst treuer Bürger:innen keine Polizei braucht. Dementsprechend ist die Tatsache, dass die Regierenden zur Zeit stark auf Polizei und Ordnungsbehörden angewiesen sind um ihre Maßnahmen durchzusetzen, ein Zeichen von Schwäche. Je weniger Macht von einer Regierung ausgeht, desto mehr Gewalt benötigt sie zur Durchsetzung ihrer politischen Agenda.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marah Frech

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