Kurz nach der Europawahl scheinen quantitative und qualitative Resultate der Wahl bereits einvernehmlich erklärt: Die «Volksparteien» SPD und CDU verlieren an Zuspruch. Die Angst vor der AfD war wohl nicht ganz unbegründet, aber glücklicherweise «ging es doch noch einmal gut». Und der große Sieger der deutschen Wahlen ist die Fraktion Bündnis 90/die Grünen. Umweltpolitische Forderungen wollen die Wähler*innen, umweltpolitische Forderungen müssen her.
Doch ganz so einfach ist es vermutlich nicht. Wie lässt sich so der kleine, aber feine Erfolg der PARTEI erklären, die deutschlandweit immerhin 2,4% und unter den Jungwähler*innen bis zu 9% erreicht hat? Wie lassen sich 11% für die AfD und weitere knappe 10,5% an Stimmen für kleinere Parteien in das Paradigma der fehlenden Umweltpolitik einschließen?Vielleicht war die Schlussfolgerung, die Verluste der «Volksparteien» CDU und SPD auf die fehlende Klimapolitik zurückzuführen, tatsächlich etwas voreilig – und vor allem zu bequem, um die einzige Lesart der Europawahl 2019 zu sein. Greta Thunberg, Fridays for Future und ein allgemeiner Trend zu einem Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge korrelieren mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit mit den hohen Zustimmungen zur Fraktion Bündnis 90/die Grünen. Doch der Absturz von CDU und SPD bei anhaltendem Zuspruch zu AfD sowie – und das darf nicht übersehen werden – weiterer kleiner Splitterparteien lassen tiefergehende Ursachen vermuten.
Nicht nur die in der Mitte angekommene «Ökologische Krise» hat die Bevölkerung politisiert. (Interessant ist ja, dass die Vorsitzenden der GroKo-Parteien nun endlich zu bemerken scheinen, dass Wähler*innen eine progressive Umweltpolitik fordern, während diese Ziele bereits mit dem Kyoto-Protokoll 1997, spätestens aber mit dem Pariser Klimaschutzabkommen 2015 international formuliert wurden. Eine Neuigkeit ist das definitiv nicht, sondern vielmehr der ursprüngliche Entstehungsgrund der Fraktion Bündnis 90/die Grünen in den frühen 1980ern.) Eine protektionistische Migrationspolitik, die Externalisierung innenpolitischer Probleme an die EU-Außengrenzen, die Kriminalisierung der Zivilen Seenotrettung, die anhaltenden Waffenexporte Deutschlands und die starke Rüstungsindustrie andererseits, Brexit und die durch Marktliberalisierung und Privatisierungen marginalisierten Sozialleistungen – das alles erhitzte die Gemüter der Wähler*innen. Die Kritik an der Nicht-Politik der Regierungsparteien – sofern man Politik als Diskurs und (Meinungs-)Streit versteht – kann ohne Frage auch als Kritik am Abbau des Sozialstaats gedeutet werden. Am Wahlabend und in den Folgetagen darauf einzugehen, wäre jedoch nicht ganz einfach und würde der deutschen Reputation im In- und Ausland nicht gerade in die Hände spielen. Ein «deutsches» Bewusstsein für die Ökologie dagegen sehr wohl.
Der mitunter hohe Zuspruch für die PARTEI (die beispielsweise in Leipzig starke 5,7% erreicht hat) wäre an dieser Stelle dem Ökotrend entgegenzusetzen. Zwar ist die Umweltpolitik der Bundesregierung hin und wieder Ziel der politischen Satire dieser Partei, doch ihre Wahlwerbespots kritisieren an anderer Stelle wesentlich deutlicher. Die ausbleibende Seenotrettung auf dem Mittelmeer wird in einem Video eindringlich anhand eines ertrinkendes Jungen dargestellt. Die anschließende Anmerkung «Jeder zehnte Mensch stirbt bei der Flucht über das Mittelmeer. Denn die EU blockiert jede Rettung.» lässt kaum Interpretationsspielraum übrig. In einem zweiten Wahlwerbespot, der ebenfalls im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen war, werden nicht weniger scharf die Rüstungsexporte der Bundesrepublik zum Ziel der Satire. Vermutlich waren dies die einzigen beiden Werbespots der Europawahl, die tatsächlich eine politisch relevante Aussage getroffen haben, vielleicht stecken hinter satirischen Aussagen wie «Durch die Reduzierung des Bruttoinlandsprodukts auf ein ökologisch und sozial vertretbares Maß steigt auch der Anteil deutscher Rüstungsausgaben auf weit über 2%. So können wir Trump und Stoltenberg (angeblich Sozialdemokrat) vorwerfen, dass sie viel zu wenig Geld in ihre beschissene NATO stecken.», die dem Wahlprogramm der Partei entommen ist, tatsächlich gleich mehrere wahre Kritikpunkte an der EU: Militärausgaben, Trump-Fügsamkeit und die Forderung eines anhaltendes Wirtschaftswachstums als Maß aller Dinge. Die 2,4% der Wähler*innen-Stimmen, die die Partei gewonnen hat, können folglich nicht als reine Klimakritik gelesen werden, sondern vielmehr als umfassende Staatskritik. Diese wiederum würde bei Beachtung weitreichende Folgen implizieren.
Auch die Fraktion Bündnis 90/die Grünen und die Linken, die zwar deutschlandweit etwas an Zuspruch verloren haben, jedoch in einigen Städten erhebliche Erfolge erzielen konnten, haben mehr in ihrem Wahlprogramm stehen als Klimagerechtigkeit: Menschenrechte, EU-Außenpolitik, Sozialpolitik und im Falle der Linken eine radikale Ablehnung der Rüstungsindustrie. Es sind eben diese Aspekte der Europawahl, die leicht in den Hintergrund gerückt werden können, denn die umweltpolitischen Forderungen von 20,5% der Bevölkerung kommen gerade zur rechten Zeit: Deutschland glänzt im europäischen Durchschnitt nicht gerade mit einer klimafreundlichen Bilanz, kann internationalen Verträge nur schwer gerecht werden und könnte in Hinblick auf den deutschen Rechtspopulismus mal wieder eine Imagepolierung à la «Wir nehmen unsere engagierte, politisierte Jugend wahr und gehen als ökologisches Vorbild innerhalb der EU voran!» gebrauchen. Nicht zuletzt hätte die Politik bei Beachtung der umweltpolitischen Forderungen aus der Bevölkerung ein größeres Verhandlungspotenzial als bei wichtigen Auseinandersetzungen mit der Wirtschaftslobby.
Dass die Zeit für nachhaltige Umweltpolitik, radikale Einsparungen und ein allgemeines Konsumbewusstsein – Fleisch, Kleidung, Statussymbole, etc. – mehr als reif ist, steht nicht zur Debatte. Deutschland hat enormen Nachholbedarf und könnte sich ökonomisch betrachtet wesentlich stärkere Investitionen leisten und mit großen Schritten radikale Klimaforderungen umsetzen. Die Reduzierung der Europawahl auf diesen Aspekt greift allerdings deutlich zu kurz. Sozialpolitik heißt das Zauberwort.
Über das Erstarken rechtspopulistischer Parteien ist schon viel gesagt worden, ebenfalls wird aktuell intensiv auf wissenschaftlicher Ebene geforscht. Heute schon bekannt ist allerdings der Umstand, dass die harsche Kritik am deutschen Staat, an der Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem «Establishment» mehrheitlich als Sozialstaatskritik im Deckmantel rechter Aussagen zu verstehen sein könnten. Ausbleibende Sozialleistungen, unsichere Arbeitsverhältnisse, Sorgen hinsichtlich der eigenen Rente oder der Verfügbarkeit von Kitaplätzen, der Mangel an Pflegepersonal undBetreuungsressourcen, wichtige öffentliche Mittel in privater Hand – das sind Felder, über die intensiv verhandelt werden müsste. Denn wenn ökologische Politik auf dem Rücken derer ausgetragen wird, die nicht zur wohlhabenden akademisch-urbanen Mittelschicht gehören, wird nicht nur die Innenpolitik, sondern ebenso die Umweltpolitik zum Ziel rechter und radikaler Kräfte. Soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit sind zwei Seiten ein und derselben Medaille und können nicht ohne einander gedacht werden. Fehlt es an ökologischen Reglungen, so leiden die (sozial) schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft zu allererst unter den schrecklichen Auswirkungen des Klimawandels, während sich die Wohlhabenden an Orte begeben können, die davon vorerst verschont bleiben. Fehlt es wiederum an sozialpolitischen Bekenntnissen und einem funktionierenden Wohlfahrtsstaat, so wird Klimapolitik immer das Sahnehäubchen der Politik der Etablierten bleiben.
Klimapolitik «beraubt» Menschen zu erst einmalPrivilegien und fordert bei konsequenter Umsetzung die Anpassung des eigenen Lebensstils. Sozialpolitik hingegen «schenkt» der quantitativen Mehrheit der Bürger*innen Leistungen und garantiert ein Mindestmaß an existentieller Absicherung. Dies ist die wichtigste Voraussetzung für die Bereitschaft zum Umdenken hinsichtlich ökologisch dringend notwendiger Umstrukturierungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.Nimmt die Politik ohne zu geben, so werden die «Volksparteien» auch bei den nächsten Wahlen auf Bundes-, Landes oder Europaebene nicht glänzen können. Diese Einsicht lässt sich allerdings nicht so wunderbar nach Außen hin verkaufen. Dazu wären erst einmal herbe Selbstkritik und das Eingestehen des eigenen Scheiterns in Hinblick auf grundlegende sozialstaatliche Leistungen und gesellschaftliche Gerechtigkeit nötig.
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<<Klimapolitik «beraubt» Menschen zu erst einmalPrivilegien und fordert bei konsequenter Umsetzung die Anpassung des eigenen Lebensstils. Sozialpolitik hingegen «schenkt» der quantitativen Mehrheit der Bürger*innen Leistungen und garantiert ein Mindestmaß an existentieller Absicherung. Dies ist die wichtigste Voraussetzung für die Bereitschaft zum Umdenken hinsichtlich ökologisch dringend notwendiger Umstrukturierungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.>>
Das hat die Mehrheit der deutschen Wähler offenbar anders gesehen, jedenfalls in Bezug auf die Europawahl. Denn Linke und Sozialdemokraten gehören ja eindeutig zu den Wahlverlierern, jedenfalls in Deutschland.
Mein Eindruck ist vielmehr, dass die Wähler eher angeödet waren von den nichtssagenden Wahlplakaten von CDU und SPD. Die SPD ließ plakatieren "Europa ist die Antwort". Aber Antwort worauf denn, liebe Frau Barley?
Die CDU meinte, wegen ihrer Politik könne man in Europa in Wohlstand und Sicherheit leben. Potentielle Wähler, die für sich selbst den Eindruck hatten, ihr Wohlstand und die Sicherung der Außengrenzen seien verbesserungsbedürftig, werden nicht CDU gewählt haben, wenn sogar die CDU selbst behauptet, das derzeitige Niveau sei der CDU zu verdanken. Die Union hat darauf gesetzt, die Tatsache, dass ein deutscher Politiker für das Amt des EU Kommissionsvorsitzenden kandidiert, sei ein Selbstläufer um ein gutes Unions-Wahlergebnis zu erzielen. Mal abgesehen davon, dass die Wähler solches Postengeschacher vor einer Wahl nicht lieben, war der außerhalb Bayerns weitgehend unbekannte Manfred Weber in den Bundesländern, in denen man nur CDU wählen konnte, kaum zu vermitteln.
Die adrette und brave Frau Barley war von Anfang an eine Fehlbesetzung für die Spitzenkandidatur der SPD. So konnte das SPD Wahlkampfthema "Soziale Gerechtigkeit" nur lauwarm rüberkommen und hat die 85% der Bevölkerung, denen es noch gut geht, nicht mobilisiert. Warum hat die SPD nicht Walter Borjans nominiert, den ehemaligen SPD Finanzminister von NRW, der die Schweiz und die deutschen Steuerhinterzieher durch den Ankauf von Steuer CDs aufgescheucht hat? Borjans wäre eine glaubhafte Figur gewesen, der man zutrauen konnte, das Steuerdumping in der EU zu beenden. Steuergerechtigkeit ist doch eine Grundvoraussetzung dafür, dass genug Geld für Soziales ausgegeben werden kann, was die SPD durchaus weiß, denn sie liess durch Finanzminister Scholz verkünden, ihr Rentenkonzept werde durch Herstellung der Steuergerechtigkeit in der EU finanziert.
Die SPD hat gut daran getan, keinen Klimawahlkampf zu betreiben. Immerhin stellt ja sie die Bundesumweltministerin, die bisher nur als Durchsetzungsverweigerin ihrer bescheidenen Umweltvoschläge aufgefallen ist.
CDU und SPD haben sich ausgerechnet im EU-Wahlkampf ein Scharmützel geliefert darüber, ob wir bei der Erhöhung der deutschen Sozialrenten eine Bedürftigkeitsprüfung brauchen. Die Wähler haben entschieden, dass es nach einer drohenden Erderwärmung um 3 Grad darauf auch nicht mehr ankommt, zumal das kein Thema ist, für welches die EU zuständig wäre.