Strategisch umflogen

EU-Außenpolitik Wie die EU durch Luftüberwachung und Kooperation mit der sogenannten libyschen Küstenwache Menschenrechtsverletzungen umgeht, zeigt ein Bericht vierer NGOs

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Die libysche Küstenwache auf Patrouille
Die libysche Küstenwache auf Patrouille

Foto: Taha Jawashi/AFP/Getty Images

Der kürzlich veröffentlichte Bericht Remote Control: the EU-Libya collaboration in mass interceptions of migrants in the Central Mediterranean rekonstruiert anhand dreier Fälle die grenzpolitische Praxis der Europäischen Union im Zentralen Mittelmeer. Laut den Herausgebern, den vier Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Alarm Phone, Borderline Europe, Mediterranea – Saving Humans und Sea-Watch, sei vor allem die Kollaboration der EU mit der sogenannten libyschen Küstenwache zur Abdrängung von Flüchtlingsbooten problematisch. Um das Vakuum einer fehlenden staatlichen Seenotrettung zu füllen und sich gleichzeitig der eigenen Verantwortung und Rechenschaftspflicht zu entziehen, sei es gängige Praxis von Frontex mithilfe von Drohnen und Flugzeugen die maritimen Grenzen aus der Luft zu patrouillieren und Flüchtlingsboote zu lokalisieren, bevor sie die libysche SAR-Zone verlassen. Deren Position würde dann an das offizielle und „kompetente“ RCC in Tripolis weitergegeben, statt private Rettungsschiffe anzufunken, die sich in der Nähe befinden und wesentlich effektiver und vor allem unter Einhaltung der fundamentaler Rechte intervenieren könnten.

Dass die EU das internationale Menschenrechtsregime lieber im Ausland verteidigt, als das eigene Handeln daran auszurichten, ist nicht neu. Das zeigen Gerichtsverfahren einzelner Kläger*innen gegen die EU, sowie zahlreiche journalistische Recherchen und aktivstische Tätigkeiten. So wurden die menschenrechtsverletzenden Praktiken der EU beispielsweise im Fall S.S. und Andere gegen Italien vor dem Internationalen Menschengerichtshof in Den Haag verhandelt, geheime und illegale Push-Back-Operationen durch den maltesischen RCC/die maltesische Küstenwache an die Öffentlichkeit getragen oder die Kriminalisierung der IUVENTA-Crew durch die italiensiche Staatsanwaltschaft nach einer Gegeninvestigation des Forensic Oceanography and Forensic Architecture für rechtwidrig erklärt.

An der Absicht der EU, die Zahl ankommender Menschen auf dem europäischen Festland kontinuierlich zu reduzieren, hat sich jedoch bis dato nichts geändert. So musste die EU nun ihre außenpolitische Strategie modifizieren: wie der vorliegende Bericht anhand dreier Fälle nachzeichnet, versuche die EU daher den direkten Kontakt mit Menschen auf der Flucht möglichst zu vermeiden, um internationale Abkommen und rechtliche Konsequenzen zu umgehen. Laut der vier Organisationen setze die EU nun vor allem auf umfangreiche Maßnahmen zur Luftüberwachung des Mittelmeers, um die Position von Flüchtlingsbooten zu lokalisieren und frühzeitig an die sogenannte libysche Küstenwache weiterzuleiten. Frühzeitig heißt, solange sich die Boote noch in der libyschen SAR-Zone befinden – denn rechtlich dürfen Menschen in diesem Fall noch von der sogenannten libyschen Küstenwache zurück auf das Festland gedrängt werden. Was sie dort erwartet, liegt ebenso außerhalb der offiziellen Verantwortung der Europäischen Union wie die Instrumente der Zurückdrängung selbst. Perverserweise kann die EU aber anschließend die Menschenrechtsverletzungen in libyschen Lagern öffentlich anprangern und ihre „humanitären“ Werte durch Worthülsen und diplomatisches Unterfangen der Öffentlichkeit präsentieren.

Ganz gleich ob eine öffentliche Thematisierung der (Über-)Lebensbedingungen geflüchteter Menschen in Libyen folgt oder nicht, das „Problem“ der Migration wird durch die Luftüberwachung des Mittelmeers gezielt aus internationalen beziehungsweise europäischen Gewässern ferngehalten. Denn dort würde beispielsweise der Artikel 3 der Menschenrechtskonvention, welcher die Zurückführung von Menschen an einen Ort verbietet, an dem ihnen Folter oder Lebensgefahr droht, das Recht auf Schutz sowie individuelle und ordentliche Asylverfahren durch und in der Europäischen Union garantieren.

Tödliche Strategie als Erfolgsmodell

Im Kern lässt sich die gegenwärtige Grenzstrategie europäischer Staaten also wie folgt skizzieren:

- Ausbildung, Finanzierung und politischen Legitimation der sogenannten libyschen Küstenwache bei kontinuierlicher Reduzierung eigener Ressourcen zur staatlicher Seenotrettung und/oder Modifizierung der Ziele laufender Marineoperationen (etwa der Frontex-Mission IRINI)

- Schaffung einer libyschen SAR-Zone, welche der Verantwortung des sogenannten Joint Rescue Coordination Centre Tripolis untersteht und ‚refoulement by proxy‘-Operationen durch die sogenannte libysche Küstenwache – eine Miliz, deren Menschenrechtsverletzungen und Aktivitäten des Menschenhandels immer besser dokumentiert und nicht länger geleugnet werden können – rechtlich absichert

- Kriminalisierung privater Seenotrettungsmissionen europäischer NGOs und eine Militarisierung der See- und Landgrenzen

Indem die EU das Mittelmeer aus der Luft überwacht und der sogenannten Libyschen Küstenwache die Positionen von Booten übermittelt, partizpiert sie an systematischen Zurückdrängungen von Menschen auf der Flucht und macht sich mitschuldig an humanitären Verbrechen, die auf dem Festland begangen werden. Die Einhaltung Internationaler Seerechtskonventionen, der UN-Flüchtlingskonvention oder der Europäischen Menschenrechtskonvention ist in dem hiesigen ausgehölten Menschenrechtsregime eher Randerscheinung. Selbst das Bekanntwerden von libyschen Folterlagern oder das potenzielle Vorhandensein „menschlicher Öfen“, wie sie laut Recherchen von Middle East Eye in Tarhuna/Libyen existierten, irritiert die EU kaum.

Stattdessen wird mithilfe statistischer Berechnungen die tödliche Strategie der EU als Erfolgsmodell verkauft: die offizielle Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, geht seit vier Jahren kontinuierlich zurück. Die absolute Zahl der Todesfälle scheint zwar zu sinken, doch die Sterblichkeit ist höher denn je. Mit der Kriminalisierung von NGOs und ihrer daraus resultierenden Verbannung aus dem Mittelmeer werden die gefährliche Flucht über das Mittelmeer und die Dokumentation gewaltvoller Grenzpraktiken der Europäischen Union zunehmend an die Ränder der Öffentlichkeit gedrängt. Erst am 8. Juli wurde wieder einmal ein Rettungsschiff unter dem Vorwand technischer Inspektionen von der italienischen Küstenwache festgesetzt.

Der populäre Vorwurf der Kooperation privater Seenotrettungsorganisationen mit libyschen Menschenschmugglern, welcher nicht zuletzt als Anklagegrund gegen zahlreiche Aktivist*innen fungierte, verliert im gegenwärtigen Grenzregime zunehmend an Substanz: Es ist die Europäischen Union selbst, die sich systematischen Menschenrechtsverletzungen und dem Tod tausender Menschen schuldig macht, wenn sie mit kriminellen Milizen eines zerfallenen Staates kooperiert und Flüchtlingsboote aus internationalen Gewässer fernhalten möchte. Externalisierung des Leidens, der Grenzen, des Verstoßes gegen die Menschenrechte – die anfallende „Drecksarbeit“ der Abschottung Europas tritt die EU an die sogenannte Libysche Küstenwache ab und versucht zwanghaft die letzten Überreste ihres humanitären Gesichts durch strategisches Umfliegen illegaler Push-Backs zu bewahren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marah Frech

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