Stadtluft, die frei macht

Flucht In Hinblick auf restriktive Grenzregime fordert das internationale Städtebündnis „Solidarity Cities“ die Aufrechterhaltung einer humanen Migrationspolitik der EU

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Stadtluft, die frei macht

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Stadtluft macht frei“ – das war bereits im Mittelalter gängige Rechtsauffassung. Auch heute sind Städte wichtige Akteure bei der Umsetzung persönlicher Freiheits- und Schutzrechte, doch während Leibeigene im Mittelalter vor ihren Grundherren flüchteten und in den Städten Zuflucht suchten, sind es gegenwärtig vor allem Verfolgung, Krieg und Terror, die Menschen zur Flucht in ausländische Städte bewegen. Im Vergleich zu 500 n.Chr. gibt es jedoch einen essentiellen Unterschied: im Mittelalter wurden Leibeigene nach einem Jahr und einem Tag erfolgreichen Untertauchens zu freien Bewohner*innen der Zufluchtsstadt, heute reicht das anonyme Überleben für einen begrenzten Zeitraum allerdings nicht mehr aus, um den ersehnten Status einer*s Stadtbewohner*in zu erlangen. Während die Verantwortung der Städte heute in der direkten Aufnahme, Betreuung und Integration geflüchteter Menschen liegt, sind diese gegenwärtig mit zunehmend restriktiven nationalen Migrationsregimen konfrontiert. Zwischen europäischer und nationalstaatlicher Ebene zeigt sich eine kritische Diffusion der Verantwortung für asyl- bzw. schutzsuchende Menschen, die in der Verengung spezifischer Handlungsmöglichkeiten und der Problemverschiebung jenseits eigener territorialer Grenzen münden.

Die Registrierung und Verteilung asylsuchender Menschen ist in der Bundesrepublik dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vorenthalten. Die rechtlichen Instrumente kommunaler Verwaltungen sind gegenüber denen des Bundes äußerst gering. Eine Ausnahme bildet der Art. 22 des Aufenthaltsgesetzes, der es kommunalen Auslandsbehörden gestattet, in dringenden humanitären Fällen Aufnahmeentscheidungen eigenständig zu treffen. Außerdem können Städte und Kommunen ihre Aufnahmebereitschaft über den vorgesehenen Verteilungsschlüssel hinaus kenntlich machen, sodass Regierungen in akuten Fällen darauf zurückgreifen können. Die Hoffnung darf an dieser Stelle folglich nicht ganz aufgegeben werden: eine Kombination aus starke Zivilgesellschaft, progressiver Kommunalpolitik und spezifischen rechtlichen Instrumenten eröffnet den Städten als transnationale Akteurinnen eine nicht zu unterschätzende Einflussnahme auf die internationale Migrationspolitik. Über lokale Initiativen und (trans-)nationale Netzwerke lässt sich ein erheblicher Druck auf nationale und europäische Institutionen ausüben, welcher die starke Kooperationsfähigkeit der europäischen Zivilgesellschaft einer scheiternden Umsetzung sogenannter europäischer Werte „von oben“ entgegensetzt. Ebenso hoffnungsvoll erscheinen die in der deutschen Öffentlichkeit noch wenig diskutierten Konzepte der „City-ID“, des „Bürger*innen-Asyls“ und der „Solidarity Cities“ (Solidarischen Städte).

Während Stadtluft einen Menschen im Mittelalter zur Freiheit und Autonomie verhelfen konnte, stellt die Stadt heute eher ein Ort der Pluralität, Diversität und hinreichender Anonymität da. Menschen auf der Flucht können dort vorübergehend in der Masse verschwinden oder aber lebenswichtige Kontakte knüpfen. Das Bündnis Solidarity Cities hat diese Besonderheit erkannt und stellt sich seiner politischen Verantwortung. So fordern die Bündnisstädte eine direkte Aufnahme von Geflüchteten und Migrant*innen und halten an einer liberalen Aufnahmepolitik fest. Meist bilden zivilgesellschaftliche Initiativen dabei das Fundament einer liberalen und solidarischen Stadtpolitik, die durch großes Engagement und durch die Zusammenarbeit der lokalen Kommunalverwaltung die Integration ankommender Menschen gemeinsam bewältigen.

Solidarity Cities ist ein internationales Städtenetzwerk, das sich in der Verantwortung für die Aufnahme, Betreuung und Integration geflüchteter Menschen sieht. Die Bürgermeister*innen der solidarischen Städte entscheiden sich mit ihrem Beitritt bewusst für eine enge Zusammenarbeit zwischen transnationalen Akteuren, der Europäischen Kommission (EuK) und den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) hinsichtlich migrationspolitischer Entscheidungen und Handlungen. Die Solidarity Cities verpflichten sich darüber hinaus auch zu psychologischer sowie sozialer Beratung und Unterstützung geflüchteter Menschen. All dies zeigt, dass Städte als politische Akteurinnen maßgeblich in die europäische Außen- und Innenpolitik eingreifen können, obwohl ihnen gesetzlich ein nicht allzu großer Handlungsspielraum gegeben ist. Während europäische bzw. nationalstaatliche Institutionen mit der Umsetzung eines humanitären Migrationsregimes versagen und sich Politiker*innen in moralisch aufgeladenen Diskursen verfangen, kann die (europäische) Zivilgesellschaft über transnationale Netzwerke selbst politische Verantwortung übernehmen – denn, wie u.a. Hannah Arendt kenntlich gemacht hat, Demokratie basiert auf dem ständigen, nicht-endenden Erkämpfen der eigenen Freiheit und Mündigkeit.

Im letzten Jahr wurde die essentielle Rolle von Städten bei der Verteilung geflüchteter Menschen besonders deutlich. Mehrere Male irrten voll besetze Rettungsboote zum Teil tagelang auf dem Mittelmeer umher, da sich kein europäisches Land für die Aufnahme der aus Seenot geretteten Menschen verantwortlich sah. So weigerten sich Italien und Malta im Juni 2018 beispielsweise das voll besetze Rettungsboot „Aquarius“ (der Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée) mit ca. 600 Menschen in einem ihrer Häfen anlegen zu lassen – nach langem diplomatischem Unterfangen gewährte das spanische Valencia schließlich eigenständig die Ankunft des Bootes und die Erstversorgung der geflüchteten Menschen. So waren Städte bis 2018, als die Seenotrettung noch von zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt wurden durfte, oft die einzigen Hoffnungsträgerinnen für Geflüchtete und Seenotretter*innen auf dem Mittelmeer, nachdem nationalstaatliche Regierungen in Europa ihrer Aufnahmebereitschaft durch verhärtete Migrationsregime ein Ende gesetzt haben. Im Januar diesen Jahres ist auch Berlin dem europäischen Netzwerk Solidarity Cities beigetreten, dass sich für die direkte Aufnahme und Integration von Geflüchteten einsetzt. Einst vom Bürgermeister der griechischen Hauptstadt Athen gegründet, sind dem Städtebündnis mittlerweile eine Vielzahl europäischer (Groß-)Städte beigetreten, die sich unter anderem der Zusammenarbeit und Solidarität verpflichten und Ausgrenzung sowie verschieden Rassismen deutlich zurückweisen. Der restriktiven Migrationspolitik des Bundes bzw. der EU setzen die Städte damit ein gemeinschaftliches und weltoffenen Konzept gegenüber, welches die humanitären Grundsätze der Menschen- und Bürgerrechte zu bewahren versucht. Michael Müller (SPD), amtierender Bürgermeister Berlins, kommentierte den Beitritt Berlins zu den Solidarity Cities mit den folgenden Worten: „Unsere Stadt ist eine weltoffene Metropole, in der die Grundsätze der ‚Solidarity Cities‘ seit jeher praktiziert werden. Berlin als ‚Stadt der Freiheit‘ hat sich stets mit der Idee der Solidarität identifiziert. […] Auch in Zukunft wird Berlin Schutzort und Lebensmöglichkeit für Geflüchtete sein. Wir begrüßen das Engagement aller Städte und ihrer Menschen, die sich dieser humanitären Aufgaben stellen, und als Ausdruck dieser Haltung zum Netzwerk der ‚Solidarity Cities‘ gehören.“

Grundsätzlich verweist das Beispiel der Solidarity Cities auf die unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten von Städten und Kommunen und ruft die Bedeutung von Bürger*innen als politische Akteur*innen wieder einmal ins Gedächtnis. Zudem kann es als kraftvolles Zeichen gegen die Parolen der populistischen Rechte gewertet werden, die zwar mit ihrer Kritik an der Aushöhlung der Demokratie durch eine kleine politische Minderheit nicht unbedingt im Unrecht liegt, die eigentliche Konsequenz daraus allerdings weit verfehlt: selten war es leichter, sich transnational zu vernetzen und innerhalb kürzester Zeit relativ dichte Netzwerke aufzubauen, die eine ausreichende Größe aufweisen, um tatsächlich als politische Akteure auf europäische Institutionen einzuwirken. Solidarity Cities und mit diesem Bündnis die Städte Gdansk, Stockholm, Florenz, Barcelona, Ljubljana, Gent, Amsterdam, Leipzig, Athen, Wien, Leeds, Nikosia, Mailand, Zürich und Berlin tauschen sich nun erstens solidarisch über Wissen und Informationen hinsichtlich ihrer eigener Erfahrungen aus, setzen sich zweitens für eine direkte Aufnahme und Integration der Geflüchteten ein, helfen sich drittens gegenseitig durch technische und finanzielle Leistungen sowie bei Kapazitätsproblemen und setzen viertens die Versprechen europäischer Politik um, in dem sie humanitäre und menschenrechtliche Grundsätze bewahren und die Umsiedlung geflüchteter Menschen in temporäre oder dauerhafte Wohnsitze fördern.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marah Frech

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