Seit den jüngsten SPD-Parteitag geistert der Begriff "Elite" nun durch die Köpfe von Politikern und Journalisten. Die meisten Beiträge der Elite-Befürworter zeichnen sich dabei weniger durch historische Kenntnis, umso mehr aber durch den selbst zugeschrieben Gestus des Tabubruchs aus. Als einer der wenigen verweist Wolf Lotter (taz vom 9. 1. 2004) historisch nicht nur auf die Verbindung des Elitebegriffs mit den Nationalsozialisten, sondern auch auf die Entstehung des Begriffs im 17. Jahrhundert. Er stellt ihn in den Zusammenhang mit dem Kampf des Bürgertums gegen das etablierte Herrschaftssystem. Doch der Begriff der "Elite" spielte hier nur am Rande eine Rolle, im Zentrum stand der Begriff der "Leistung". Anstatt durch die Blutsbande des Adels sollte sich die gesellschaftliche Spitze allein durch Leistung rekrutieren. Mit dem Sieg des Bürgertums in Frankreich und England wurde das Leistungsprinzip zum Ferment der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Der Begriff Elite spielte hingegen bei der Konstituierung der bürgerlichen Herrschaft zunächst eine geringe Rolle. Seine zentrale Ausprägung erhielt der Begriff erst, als die Macht des Bürgertums Ende des 19. Jahrhunderts durch die organisierte Arbeiterschaft zunehmend in Frage gestellt wurde. Für Teile des Bürgertums wurde nun die "Masse" zum Schreckensbild, der Untergang konnte nur durch die Herrschaft der Eliten vermieden werden. In diesem Zusammenhang entstanden die zentralen Schriften, die eine Theorie der Elite begründeten. Die Arbeiten von Gaetano Mosca Sulla teoria dei governi e sul governo parlamentare 1884 (dt: Die herrschende Klasse), Vilfredo Pareto Trattato di Sociologia generale 1916 und Robert Michels Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie 1911, sind alle stark vom Machiavellismus geprägt. Sie gehen von der Beobachtung aus, dass alle Gesellschaften Macht und Herrschaft kennen und postulieren, dass es den Klügsten obliegen sollte, sie zu nutzen. Die Elite herrsche dabei über eine "dumpfe Masse", die keinerlei Fortschrittspotential in sich trage und deswegen mit allen Mitteln geführt werden müsse.
Große Anschlusskraft besaßen diese Vorstellungen für die faschistische Ideologie, und dementsprechend bedienten sich die Nazis wie auch die italienischen Faschisten ihrer. Wie versuchen sich dies nun die Elite-Befürworter unserer Tage zu erklären? Lotter schreibt: "Der Faschismus war eine Massenbewegung, eine Normierung in die Breite, die keine Überlängen akzeptierte. Im Dritten Reich wurde ... das Mittelmaß vom Mittelmaß regiert." Der Faschismus als Gesellschaftsform der Massen und des Mittelmaßes? Eine interessante Vorstellung, nur widerspricht sie allen Forschungsergebnissen. Michael Wildt hat in seiner Studie über das Führungskorps des SS-Reichssicherheitshauptamtes belegt, dass diese Kerntruppe des Völkermords aus hochgebildeten, jungen Akademikern bestand. Doch nicht nur einige Hochschulabsolventen, die zur SS wechselten, betätigten sich als nationalsozialistische Elite. Atemberaubend war auch die Praxis der mit der Untersuchung Polens und der Sowjetunion betrauten deutschen "Ostforscher". Götz Aly und Susanne Heim haben gezeigt, wie diese Gruppe von Akademikern Bevölkerungsoptima berechneten und vorschlugen, welche Teile der polnischen Bevölkerung umgesiedelt und welche Teile der jüdischen Bevölkerung sofort deportiert werden konnte. Sie waren eine Elite, die bestrebt war, ihre Ideen radikal in die Tat umzusetzen; eine Elite, die keine Verantwortung kannte und meinte, sich nicht um die "dumpfe Masse" scheren zu müssen. Wer da vom Mittelmaß redet, sollte vom Nationalsozialismus lieber schweigen.
Nachdem die Nachbarschaft von Nationalsozialismus und Elitegedanke zur Kenntnis genommen wurde, war auch in den USA die Elitetheorie zunächst diskreditiert. Erst Ende der fünfziger Jahre wurde dort eine neue, sich demokratisch gebende Elitentheorie formuliert. Peter Bachrach, ein liberaler US-Professor, untersuchte daraufhin die Vereinbarkeit der neuen Elitekonzepte mit der Demokratietheorie. Er stellte fest, dass die neue Theorie "in völligem Einklang mit dem rapiden Wandel zur größeren Machtkonzentration in den Händen der Manager-Eliten" steht. Im Fazit kommt er zu dem Ergebnis, dass die "demokratische" Elite-Theorie dem Ideal der Gleichheit und damit auch der klassischen Demokratie-Theorie, zum Beispiel John Stuart Mills, widerspricht. Elitebildung kann demnach nicht wirklich demokratisch sein.
Die angeblich "demokratische" Elitetheorie ist die Grundlage, auf die sich der Elite-Begriff stützt, der uns nun von Grünen und SPD präsentiert wird. Schröder wie Fischer betonen, dass sie eine Elite wollen, wenn sie denn auf Leistung beruhe, womit sie nur das alte bürgerliche Mantra wiedergeben. Doch wie sieht es konkret aus mit der Elite, die auf Leistung beruht? Studien der TU Darmstadt (unter anderem von Michael Hartmann) haben gezeigt, dass es mit der Bedeutung der Leistung bei der Kooptierung der höchstbezahlten Fachkräfte nicht weit her ist. So sitzen in den Vorständen großer deutscher Unternehmen fast ausschließlich Angehörige des Groß-Bürgertums, während andere Schichten trotz vergleichbarer Leistungen keinen Zutritt zu den Vorstandsetagen haben. Warum? Weil bei Bewerbern mit ähnlichen Leistungen die Entscheidung der Vorständler fast immer nach dem Kriterium ausfällt, wer ihnen im Habitus am ähnlichsten ist. Nicht viel anders sieht es bei der Besetzung von Professoren-Stellen aus. Auch hier wird von der Berufungskommission oftmals der Habitus und die Souveränität stärker bewertet als die an Veröffentlichungen oder Lehrerfahrung ablesbare Leistung. So sitzen in Deutschland in allen Studiengängen Vertreter des Groß- und Bildungsbürgertums auf über 90 Prozent der Professorenstellen. Trotzdem ist laut Hartmann die soziale Durchlässigkeit an den Universitäten größer als in Unternehmen, da das Verfahren an der Uni formaler ist und Personen aus unterschiedlichen Statusgruppen an ihm beteiligt sind. Er zieht daraus den Schluss, dass wenn man Leistung fördern wolle, man erstens die Verfahren stärker formalisieren und zweitens die Leistung von Menschen aus sogenannten "bildungsfernen Schichten" höher bewerten müsste als bei denen, die lediglich den Habitus ihrer Eltern reproduzieren.
Von solchen Vorschlägen ist aber in der Debatte kaum etwas zu vernehmen. Worum geht es Schröder, Fischer Co. also? Das Aufkommen des Elite-Begriffs ist bei SPD und Grünen eng verbunden mit der wachsenden Distanz der Parteispitzen gegenüber ihrer Basis. Bei den Grünen hat die Aufhebung der Trennung von Amt und Mandat den endgültigen Abschied von der Basisdemokratie besiegelt. Die SPD hat sich gleich gänzlich von ihrer sozialen Basis verabschiedet: Gewerkschaften sind für sie nur noch überholte Verteidiger der Interessen einer faulen Masse. So wird die Agenda 2010 der Anfang vom Untergang der SPD als Volkspartei sein. In beiden Parteien setzt sich der Trend zu einer Konzentration auf charismatische Führerfiguren fort. Diese scheinen von dem Glauben getragen zu sein, durch ihre mediale Macht und Präsenz das Wählervolk - trotz der neoliberalen und basisfernen Politik zugunsten der Wohlhabenden - auf ihre Seite ziehen zu können. Die große Zustimmung, die der Elite-Begriff von "linken" SpitzenpolitikerInnen erhält, manifestiert den endgültigen Abschied vom emanzipatorischen Projekt, mit dem ihre Parteien einst angetreten waren. Die Vorstellung von einer Elite, die eine uninteressierte Masse regieren muss, steht im unüberbrückbaren Gegensatz zum Glauben an die Emanzipation breiter Volksschichten und an die Gleichheit der Menschen.
Marc Buggeln ist Historiker und zur Zeit Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung.
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