Die Ballade von Mr. Giver

Nachruf Deep Purple Mitbegründer Jon Lord ist tot. Er konnte mehr als Hardrock und Konzertsaal
Jon Lord war ununterbrochen mit seiner Musik beschäftigt
Jon Lord war ununterbrochen mit seiner Musik beschäftigt

Foto: Jo Hale/Getty Images

Jeder ernsthafte Fan von Jon Lord hat mindestens einmal im Leben ein Konfliktgespräch mit den Nachbarn führen müssen. Was der Mitbegründer von Deep Purple mit seiner Hammond-Orgel anstellte, konnte, nein, musste man zuweilen in angemessener Lautstärke genießen. "Made in Japan“ auf Zimmerlautstärke – soll das ein Witz sein?

Lord, geboren am 9. Juni 1941, wollte „alles lauter als alles andere“. Der klassisch ausgebildete Pianist experimentierte zu diesem Zweck mit allerlei technischem Gerät und jagte die Töne der Hammond-Orgel kurzerhand durch einen Marshall-Gitarrenverstärker. Das Resultat wurde sehr zu Recht als "The Beast“ bezeichnet. Die Wirkung ist in Worte nicht zu kleiden, und kennzeichnend für den ganzen Mann. Lords Amalgam aus klassischer Erziehung, Liebe zum Rhythm’n’Blues und schierer Experimentierfreude ist atemberaubend.

Nach musikalischen Lehr und Wanderjahren - unter anderem spielte er bei den Kinks bei "You really got me“ und bei den Flowerpot Men mit - gründet er mit dem Ausnahmeschlagzeuger Ian Paice und dem Gitarristen Ritchie Blackmore Deep Purple. Deren erste Alben dominierte Lord mit seinen Experimenten, in denen er Rock und Klassik miteinander zu verschmelzen gedachte, mit mal mehr und mal weniger Erfolg. Egal, schlimmer ging immer (siehe Emerson, Lake und Palmer), und bei Deep Purple hatte man oft genug mehr als eine Ahnung davon, was das eigentlich sollte.

Erfolgreicher Schweinerock

Der Höhepunkt dieser Versuche war das - mit Ian Gillan als neuem Sänger und Roger Glover am Bass - 1969 in der Royal Albert Hall aufgeführte "Concerto for Group and Orchestra“, das für Furore und Verwirrung gleichermaßen sorgte. Danach aber drehte sich der Wind in der Band, und der Schweinerock wurde für die Folgezeit Jahre bestimmend. Die kommerziell erfolgreichste Phase der Band begann, angetrieben von seinem Antipoden Blackmore, der sich mit Lord auf der Bühne denkwürdige musikalische Gefechte lieferte.

Sportlicherweise machte Lord aus diesem Paradigmenwechsel das Beste. Statt die Brocken nach seiner Entmachtung hinzuwerfen, lärmte er weiter mit und war Ko-Autor von Krachern wie "Smoke on the Water". An schlechten Tagen zerfiel das musikalische Konzept in seine Bestandteile. Zielloser Lärm, falscher Pomp und prätentiöses Gehabe, für das der dritte Sänger und Gillan-Nachfolger David Coverdale pfeilgrad steht wie kein Zweiter, waren die betrüblichen Folgen. An guten Tagen aber, ach, da bliesen sie alles weg, was da kreucht und fleucht.

Streitereien und Exzesse aber führten zu einer Erosion der Band, und 1976 war nach einem weitgehend missglückten Versuch mit dem Gitarristen Tommy Bolin erst mal Sense. Lord ließ es sich nicht verdrießen. Bereits in der Spätphase von Deep Purple war er immer wieder zu klassischen oder rockigen Exkursionen aufgebrochen. Nach dem vorläufig endgültigen Bruch verfolgte er einerseits verstärkt seine klassischen Interessen, wie z.B. die Kooperation mit dem nicht minder experimentierfreudigen Eberhard Schoener zeigt.

Das bezaubernde gemeinsame Album "Sarabande" gehört zu den Meilensteinen in Lords Schaffen. Kurz darauf gründete er mit Paice und seinem Freund Tony Ashton die Formation Paice Ashton Lord, die leider nur ein tolles Album dauern sollte. Danach landete er bei David Coverdales Kirmesmusikantentruppe Whitesnake. Hier wirkte Lord einige Jahre ohne große Gestaltungsansprüche, und nutzte die Zeit unter anderem dafür, nun auch Synthesizer auszuprobieren. 1984 ging es dann mit Deep Purple wieder weiter, bis Lord 2002 „in aller Freundschaft“ ausstieg.

Und immer wieder der Blues

Lord war ununterbrochen mit seiner Musik beschäftigt, und damit, als Musiker zu wachsen. Wir müssen uns ihn als einen glücklichen Menschen vorstellen. Seine Referenzpunkte waren dabei einmal - klar - Bach, zum anderen die englischen Klangmaler wie Elgar oder Ketèlbey. Sowie der Blues, und immer wieder der Blues. Musikalisches Freidenkertum und akkurates Handwerk, eine rare Kombination und Vielschichtigkeit, wie man sie sonst bei Zappa oder Helge Schneider kennt. Und oft im besten Sinne vergnügt.

Neben den von ihren jeweiligen Fans allzu ernst genommenen Säulen Hardrock und Konzertsaal geraten Lords liebenswerteste Projekte heute oft aus dem Blickwinkel. Die Kollaborationen mit seinem Freund und Geistesverwandten Tony Ashton zeigen, wie schnörkellos und cool Musik sein kann, wenn das eigene Vergnügen der Musiker mehr zählt als das Schielen Richtung Markt und Pantheon. Hier wurde weder der Rock revolutioniert noch wurde der Klassik tüchtig Bescheid getan – hier wurde Musik gemacht. Möglicherweise haben diese Sachen am wenigsten Patina angesetzt.

Im vergangenen Jahr teilte Lord der Öffentlichkeit mit, dass er an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt sei. Noch im Juli dieses Jahres wollte er bei einer Aufführung seines Durham Concerto in Hagen dabei sein, hatte aber das Konzert kurzfristig abgesagt, um die Krebsbehandlung fortzusetzen. Am 16. Juli starb Lord in einem Londoner Krankenhaus an einer Lungenembolie.
Der Vollblutmusiker Jon Lord starb mit einer ausgeglichenen Bilanz. Er hat der Musik das zurückgegeben, was er von ihr empfangen hat. Mehr kann man nicht verlangen. Dass wir Zeugen dieses Austauschs wurden, sollte uns mit Dankbarkeit erfüllen.

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