Sie ist eifersüchtig auf sein Schreiben und fühlt sich vernachlässigt. Er fordert sie genervt auf, selbst zu schreiben. Sie packt sich Notizheft und Griffel, setzt sich unter einen Baum und fängt damit an. So lapidar die bereits 35-jährige Frau 1942 mit dem Schreiben beginnt, so existenziell wird es für sie – die einzige Rettung von einem gebrochenen Herzen, den Verwundungen einer unglücklichen Kindheit, der Einsamkeit, die das Schreiben auslöst und zugleich nährt. Dabei schafft Violette Leduc ein Werk von ungeheurer Wucht und – was die Formulierung einer weiblichen Wahrnehmung in der europäischen Literatur angeht – eine Pionierleistung.
Violette heißt der neue Film von Martin Provost, der 2008 die Künstlerinnenbiografie Séraphine inszenierte. Provost könnte die Geschichte nach einem klassischen Muster erzählen, entlang einer, selbstverständlich, problematischen Künstlerexistenz, die sich von neuerlichem Tiefpunkt zu noch abgründigerem Exzess hangelt und das behütete, bürgerliche Publikum mit wohligem Schaudern über ein ungesichertes Dasein in den Alltag entließe.
Doch der Filmemacher geht einen anderen Weg. Er zeichnet auf äußerst stringente und unfassbar einfühlsame Weise die unbedingte Notwendigkeit des Schreibens an sich nach. Und dann schildert er fast nebenbei, was das Schreiben einer Frau in der Gesellschaft der Kriegs- und Nachkriegsjahre für einen immensen Kraftakt bedeutet haben muss. Denn Violette Leduc hat mit ihrer Literatur Neuland betreten. Nach Werken wie L’Asphyxie (Das Ersticken), in dem sie ihre unglückliche Beziehung zur Mutter und die vaterlose Kindheit verarbeitet, und vor allem mit der Autobiografie La Bâtarde (Die Bastardin) gibt es plötzlich eine Stimme, die eine ungeschönte Sprache für weibliche Sexualität und Erniedrigung findet und ein unbedingtes, gleichwertiges Selbstbestimmungsrecht für Frauen einfordert.
Die finale Signierstunde
Und das in einer Zeit, in der Ehefrauen in Frankreich erst 1964 ein eigenes Konto führen durften oder in Deutschland bis in die 70er Jahre hinein die Erlaubnis des Ehemanns brauchten, um einen Beruf auszuüben. Mit Ravages (Verwüstungen) schildert Leduc bereits 1955 einen Schwangerschaftsabbruch. Sie widerlegt damit auf eindrückliche Weise die bis heute anhaltenden Ansichten staatlicher wie kirchlicher (von Männern geprägten) Institutionen, dass bei einer Liberalisierung des Abtreibungsrechts Frauen ihre Kinder wie eine lästige Grippe loswerden wollten. Violette beschreibt nun den Lebensabschnitt zwischen der ersten Veröffentlichung von L’Asphyxie, Leducs oft aussichtslos erscheinenden Kampf um Anerkennung als Künstlerin bis zum Durchbruch mit der Autobiografie.
Auf Vermittlung von Simone de Beauvoir veröffentlicht Albert Camus den ersten Roman von Violette Leduc in seiner berühmten Reihe bei Gallimard. Auf der dritten Ebene erzählt Provost über dieses widerborstige, der vorbehaltlosen Leidenschaft verpflichtete Leben, zu dem auch die Freundschaft und Liebe zwischen Leduc und Simone de Beauvoir gehören.
Dabei wird so nahe an dieser bestimmt nicht nur zur Identifikation einladenden Frau erzählt, dass die Signierstunde Violettes, mit der der Film endet, zu Herzen geht. Wir sind den ganzen Weg mit Violette gegangen, wir haben den Kampf um ihre Existenz miterlebt. 139 Minuten lang, die in keinem Moment zu lang waren. Wir mussten nicht „abgeholt“ werden, wir haben den Weg selbst gefunden und wir wurden reich belohnt dafür.
Im ausführlichen Interview mit Martin Provost im Presseheft nennt der den dramaturgischen Bogen um Leducs Ringen eine Reise ins Licht. Getragen wird diese Fahrt von einem erlesenen Ensemble. Olivier Gourmet als wunderbar seltsamer und ebenfalls in Einsamkeit gefangener Mäzen Jacques Guérin; Jacques Bonnaffé, der Jean Genet (der ihr Die Zofen widmen wird) hinreißend nonchalant aus dem Ärmel schüttelt. Nathalie Richard, die Leducs Mutter mit roh-herber Verlebtheit ausstattet und damit Mitgefühl erzeugt.
Die andere Gesellschaft
Und, natürlich, die beiden Hauptdarstellerinnen. Die große Emmanuelle Devos als Violette Leduc. Spätestens seit Sur mes lèvres (Lippenbekenntnisse, 2001) von Jacques Audiard gehört sie zu den wichtigsten und überzeugendsten französischen Schauspielerinnen. Sie wirft sich mit Elan in die Rolle und lotet sie in allen Heftigkeiten, Zärtlichkeiten, Verlorenheiten aus. An ihrer Seite zeichnet die hierzulande bekanntere Sandrine Kiberlain (Haben (oder nicht), Beaumarchais, Ein Mann in Nöten) die Studie einer faszinierend unterkühlten, innerlich jedoch brodelnden Simone de Beauvoir, die auch als Prototyp weiblicher Intellektualität an sich verstanden werden könnte.
Simone de Beauvoir wird als Siegerin das Feld verlassen. Sie hat Violette entdeckt, gefördert und bedingungslos unterstützt. Wenngleich sie Violettes Liebe nicht erwiderte, erkannte sie sie doch. Am Ende leben die beiden Frauen in einer anderen Gesellschaft – und sind diejenigen, die daran maßgeblich mitgewirkt haben. Das Licht, in das diese Reise führt, ist wahrlich hell.
Violette Martin Provost Frankreich 2014, 139 Minuten
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