Hinter der Mauer, da sind die anderen

Dystopie John Lanchesters Buch der Stunde zeichnet das Bild einer Zukunft, in der die Gesellschaft traumatisiert ist und Jung und Alt sich nicht mehr viel zu sagen haben

Pünktlich zum Ende des in Zukunft wohl als verheerend wahrgenommenen zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts liegt der passende Schlüsselroman vor – Die Mauer von John Lanchester. Das Setting ist schnell zusammengefasst: In einer nahen Zukunft die, wie alle Zukünfte, sehr bald in einer weit zurück liegenden Vergangenheit liegen wird, hat sich Großbritannien buchstäblich eingemauert. Zehntausend Kilometer Küste sind mit einer soliden mindestens fünf Meter hohen Mauer befestigt. Die Briten setzen dabei neue Maßstäbe und rekrutieren die wehrtaugliche Bevölkerung auch gleich zu einem zweijährigen Zwangsdienst für die Wartung und Bewachung ihres modernen Limes. Abzuwehren gilt es die „Anderen“. Wir erfahren nicht allzu viel über diese, sich in einem permanenten „Low Intensity Conflict“ befindende Gesellschaft. Ihre Mitglieder tragen eingepflanzte Chips über die sie biometrisch identifiziert werden und ohne die sie „kein Leben mehr“ haben.

Zugrunde liegt diesem ganzen Szenario ein euphemistisch als „Wandel“ bezeichnetes Ereignis, in dessen Verlauf jedoch weltweit etwas ganz gehörig schief gelaufen sein muss. Beispielsweise gibt es auf dem Planeten keine Strände mehr und das Verhältnis zwischen den Jungen – der ersten Generation, die nur eine Welt nach diesem Wandel kennt – und den Alten, die die Welt an diesen Punkt geführt haben, ist gründlich zerrüttet. In etwa so, wie die sich im Hier und Jetzt abzeichnenden Dysfunktionen zwischen uns und den Teenagern, die seit einiger Zeit jeden Freitag die Schule schwänzen, um zu demonstrieren.

Wir begleiten mit Joseph Kavanagh einen jungen Bewachungsdienst-Novizen in diese befremdliche Welt und durchleiden mit ihm sämtliche Stationen einer gründlichen Deprivation. Die Metaphorik springt der Leserschaft fast etwas zu deutlich ins Gesicht. Brexit, Krise der Demokratie, Autoritarismus, Migration, hier moralisches und humanitäres Versagen der EU – all diese Verwerfungen haben den Stoff quasi rechts überholt. Lanchester soll nach eigener Aussage diese Mauer schon vor sieben Jahren geträumt haben.

Traumatisierte Gesellschaft

Mittlerweile sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir überdeutliche Metaphern gut gebrauchen können. Denn machen wir uns nichts vor: Das, was wir allgemein als „offene Gesellschaft“ bezeichnen, wirkt angesichts innovationsbegeisterter Siliconvalley-Freaks und dem florierenden Einparteien-Modell Chinas doch arg antiquiert. Die Reise scheint in eine Art hochtechnisierten Mittelalter zu gehen, und tatsächlich haftet Lanchesters Mauer – wie auch den Umgangsformen seiner Protagonisten – etwas Mittelalterliches an. Die Menschen in Lanchesters Welt sind mit ihren System so verwachsen, dass das Entfernen des Chips bei Verbannung als Auslöschung wahr genommen wird. Und das erinnert sehr an das gerade im Entstehen begriffene chinesische Modell. Doch auch im „freien Westen“ wirkt der mit dem ganzen IT-Spielzeugen beobachtete, vermessene und manipulierte Mensch doch ganz wie ein folgsamer Untertan. Dieser über seine portablen Apparate gebeugte „Neue Mensch“ ist so ganz anders herausgekommen als das aufrechte, freie und kritische Individuum, das Humanismus und Aufklärung in ihm erträumten.

Bei Lanchester ist dieser Umbau bereits sehr weit fortgeschritten. Der im Buch nicht näher beschriebene „Wandel“ – außer dass auch klimatische Disruptionen dabei eine Rolle spielten – scheint diese Gesellschaft soweit traumatisiert zu haben, dass sie sich offenbar bereitwillig einer kleinen – tatsächlich Elite genannten – Schicht unterworfen hat. Am Ende ist schon der Anblick einer brennenden Öl-Lampe ein fast zu Tränen rührender Trost in einem Meer aus seelischem und moralischem Unvermögen.

Es gibt noch ein anderes Buch, ebenfalls mit kurzem und knappen Titel und ebenso zappenduster: The Road von Cormac McCarthy. Bei McCarthy hat die Apokalypse nur ein paar verwilderte Überlebende hinterlassen, die sich gegenseitig die schlimmsten Feinde sind. Und auch bei ihm gibt es einen ergreifenden "Öl-Lampen-Moment" der die ganze Trostlosigkeit auf zwei, drei Seiten in etwas Hoffnungsvolles wendet. Lanchester schildert mit "Die Mauer" eine Art innere Apokalypse. Alleine die, buchstäblich schauderhafte, Schilderung der Kälte, welcher die „Verteidiger“ auf der Mauer ausgesetzt sind, ist wie ein Spiegel der inneren Kälte dieses Systems.

Info

Die Mauer John Lanchester, Klett Cotta, 348 Seiten, 24€

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Geschrieben von

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