Am 11. November 1998 besucht Manfred Krug seinen Vater zum letzten Mal im Krankenhaus. Er hat ein Tonbandgerät dabei, um das Gespräch aufzuzeichnen. Der sonst sein ganzes Leben über bärbeißige, bisweilen zur Gehässigkeit neigende Vater bittet nun, in seinen letzten Augenblicken der Luzidität, um Verzeihung, selbst bei Krugs Ehefrau Ottilie. Krug transkribiert das Gespräch sorgfältig in sein Tagebuch, und diese Szene herzerweichend zu nennen, wäre eine Untertreibung. Entstanden ist ein Dokument der Klarheit, das angesichts unser aller Endlichkeit einen tiefen Einblick in die letzte Sterbephase eines Menschen gibt.
Die Szene ist tatsächlich symptomatisch für diesen ganzen zweiten Band von Manfred Krugs Tagebüchern. Auch wenn er
h wenn er zu Beginn Ernst Jünger zitiert, der sagt, dass jedes Tagebuch nach hundert Jahren wichtig wird, egal von wem geschrieben, werfen allein Krugs regelmäßige Besuche und Feierlichkeiten in seinem Freundeskreis ein Schlaglicht auf Umstände, die diese Tagebücher lange vor Ablauf der 100 Jahre „wichtig“ machen. Jedoch geht Krug mit der eigenen Wichtigkeit so schnoddrig um, dass sein Text immer wieder zur Momentaufnahme des sogenannt mittelalten, erfolgreichen Mannes überhaupt transzendiert. Angesichts der Bedeutung mittelalter, erfolgreicher Männer für die Gesellschaft, gerade in den 1990er-Jahren, ragt der Text also weit über Krugs eigene Bedeutung hinaus.Heym: „Du bist jetzt reich?“Wir erleben durch seinen Blick Gerhard Schröders Wahlsieg 1998 oder bekommen das Scharwenzeln öffentlich-rechtlicher Würdenträger um seine eigene Person mit spitzer Feder erzählt. Besonders das der damaligen NDR-Redakteurin Doris Heinze – der großen Pionierin der folgenden Nepotismus-Skandale in den ARD-Anstalten. Heinze legt ihm ein selbst geschriebenes (!) Drehbuch vor, das so grottig ist, dass er es gar nicht zu Ende lesen will. Trotz aller Privilegien und dauerhaften warmen Regens (Stefan Heym: „Habe gehört, du bist jetzt reich?“ – MK: „Ja.“) blickt Manfred Krug schonungslos auf den eigenen körperlichen Zerfall, der nach einem Schlaganfall ungeahnte Schubkraft gewonnen hat. So entsteht ein Spannungsfeld, das er geschickt zum Hauptschauplatz des ganzen Geschehens auffächert.Seine Hinfälligkeit trifft auf das neue, überbordend neugierige und entzückend energetische Leben seiner Tochter Marlene. Lustlosigkeit als Schauspieler wird neu gewonnenem Elan als Sänger gegenüber gestellt und die weltpolitische Lage (Kosovokrieg und Nato-Einsatz gegen Serbien, Clintons „Lutschliese“, Jelzins Zerfall) bilden den Rahmen von familiären Verwerfungen.Höhepunkt dieser Verschränkung ist die Reaktion des Vaters auf das furchtbare Zugunglück bei Eschede. Der alte Stahlgießer weiß schnell, dass eine gesprungene Radscheibe Verursacherin der Katastrophe ist. Was folgt, ist eine Beschreibung der Wesenheit von Stahl und dass man eben wissen müsse, welcher Stahl mit welchem verschmolzen werden könne. Ein Wissen, dass heutzutage (wir reden von den 90ern) verloren gegangen sei. Was nützt all der Fortschritt, wenn altes, grundsätzliches Wissen über Materialien verloren geht dabei?Über all diesen hochinteressanten Querverbindungen, kleinen Exkursen – zum Beispiel über die Sprache an sich (warum „Gutdünken“, aber kein „Schlechtdünken“), der Wiederbelebung ausgestorbener Wörter (Bankert, selbviert) oder gleich eigener Schöpfungen (Fratzengewitter) schwebt die Trauer über den Verlust des besten Freundes Jurek Becker, der immer wieder in bestens memorierten Träumen auftaucht.Allein diese Träume erlauben einen tiefen Blick in das Seelenleben eines hochsensiblen und produktiven Künstlers. Ein Gedichtband wird geschrieben, Krug geht ins Studio, um die Songs aus seinen Tatorten einzuspielen – unterstützt von seiner Tochter Fanny, Abgehauen, sein Bericht über die Ausreise aus der DDR, wird von Frank Beyer verfilmt. Er ficht Fehden im Straßenverkehr und mit Kaminfegern aus, muss dann die Zudringlichkeiten der Schmierenpresse abwehren und jongliert die Porzellantellerchen seines Familienlebens mit der Behändigkeit eines flinken Elefanten.Alles in allem verdichtet sich hier das Bild eines Lebens, das langsam aus der Welt und ihrem geschäftigen Getriebe fällt. Man liest vom Leben einer Schlüsselfigur deutsch-deutscher Kultur- und Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Glücksfall, dass sein Protagonist selbst es vermag, uns die ganz allgemein menschliche Endlichkeit und die damit verbundene Melancholie zu schildern.Placeholder infobox-1