„Der Magier im Kreml“: Guiliano da Empoli zeichnet Putins Aufstieg nach
Russland Mitten ins Herz: Giuliano Da Empolis Roman „Der Magier im Kreml“ erzählt von Putins einflussreichstem Berater Wladislaw Surkow. Eine schattenhafte Instanz in Wladimir Putins Machtapparat
Foto: Alexej Nikolsky/Ria Novosti/AFP via Getty Images
Der „Schlüssel“ zu einem Land und seiner Gesellschaft liegt oft in seiner Literatur. Gerade auf Russland trifft das besonders zu. Die Literatur hat hier seit jeher eine große Bedeutung, allein schon weil die russische Bevölkerung in den Jahrhunderten ihrer mannigfaltigen Unterjochung das Schweigen zu einer veritablen Charaktereigenschaft herausgebildet hat.
Wenn nun Roman und Sachbuch in einem kühnen Griff einfach miteinander verwoben werden, wissen wir seit Truman Capote oder Norman Mailer, dass Großes dabei entstehen kann, und tatsächlich kann Giuliano da Empolis Der Magier im Kreml in dieser Liga mitspielen. Der Roman des italoschweizerischen Schriftstellers ist zu Recht preisgekrönt, unter anderen mit dem renommierten Grand Prix du Romander
nd Prix du Romander Académie française, die Lizenzrechte sind bereits in 26 Länder verkauft.Zur Handlung: Wir erleben ganz klassisch romanhaft, wie der Ich-Erzähler, der hier aller Wahrscheinlichkeit nach identisch mit dem Autor ist, in Moskauer Archiven nach Material über den historisch verbürgten Schriftsteller Jewgeni Samjatin sucht, um eine Neuauflage von dessen einzigem Roman Wir vorzubereiten. Samjatins dystopischer Roman, 1924 erschienen, ist tatsächlich das erste im aufkommenden Sowjetsystem verbotene Buch, und allein deshalb gebührt dem Werk besondere Aufmerksamkeit; auch wenn die darin beschriebene total überwachte Gesellschaft eher eine Abbildung auf uns zukommender Realitäten ist. Die Beschäftigung mit Samjatin führt den Erzähler jedenfalls – über den Umweg Twitter – zu einer ganz anderen, ebenso realen wie sagenumwobenen Gestalt, dem ehemaligen, einflussreichen Putin-Berater Wladislaw Surkow, den der Autor in seinem Roman Wadim Baranow nennt, während alle anderen in der Erzählung ihre wirklichen Namen behalten haben. Und sie tauchen alle auf!Nachdem Baranow herausgefunden hat, dass ein Westler in den Archiven über Samjatin forscht, lädt er ihn zu sich auf seinen Landsitz außerhalb Moskaus ein. Er hat offenbar entschieden, dem Fremden sein ganzes Leben als schattenhafte Instanz in Putins Machtapparat von den Anfängen 1999 bis zum Bruch 2020 zu erzählen.So manche Passage erinnert in der thematischen Dichte und Fülle an die Großinquisitor-Monologe in Dostojewskis Gebrüder Karamasow. Interessanterweise ist da Empoli aber kein Romancier, sondern ein Politologe, der seinerseits bereits Berater im Kabinett Renzi war und Gründer des proeuropäischen Think-Thanks Volta. Von Beginn an gelingt es dem Autor nun, den Atem einer großen Erzählung zu entfalten, mittels Putins Spindoktor in das sinistre Herz der russischen Macht vorzudringen. Selbst Putin wird zu einer Romanfigur, und das ist womöglich wirkungsvoller als noch die besten Berichte und Analysen von Catherine Belton bis Timothy Snyder.Wir erleben, wie Baranow, Ende der 1990er Jahre ein windiger TV-Produzent in der Moskauer Underground-Theaterszene, angesichts der unübersehbaren Hinfälligkeit Jelzins zusammen mit dem in dieser Goldgräberzeit reich gewordenen Boris Beresowski den vermeintlich folgsamen KGBler Putin zuerst als Ministerpräsident installiert. Allein die Gespräche, wie sich Putin zuerst ziert und dann doch skeptisch einwilligt, lohnen die Lektüre und legen die Denkstrukturen des inneren Kreises offen. Die 1990er werden darin nicht etwa als Befreiung, sondern als Bedrohung wahrgenommen. Chaos und Willkür herrschen, und diejenigen, die von diesen wilden Zeiten profitierten, wollen nun eine Rückkehr zur „Vertikalen der Macht“, allein um ihre Besitzstände zu schützen. Putin ist allerdings ganz und gar nicht gewillt, ein Handlanger Beresowskis zu werden, was der dann auf die harte Tour lernen wird, bevor er sich im Londoner Exil an seinem Lieblingskaschmirschal aufknüpft.Baranow hingegen beeindruckt durch die konsequente Umgestaltung Russlands zu einer Zirkusarena, in der alle politischen Aktivitäten auf den neuen Zaren ausgerichtet sind. Er ist es, der die Partei „Einiges Russland“ gründet und gleich noch alle anderen Oppositionsparteien, um so den Anschein von Parlamentarismus zu erhalten.Egomanisch-pathologischWie wir in Baranows Denken, seine antiwestlichen Ressentiments, seine nationalistische Paranoia hineingezogen, ja fast schon korrumpiert werden, erinnert an Jonathan Littells aus der Sicht eines SS-Mannes verfassten Bericht Die Wohlgesinnten. Dabei wird zusehends deutlich, dass im Ukrainekrieg viel mehr auf dem Spiel steht als „nur“ die Souveränität der Ukraine. Es geht darum, ob sich eine offene, freie Welt, in der sich der Individualismus, auch in seinen egomanisch-pathologischen Auswüchsen, entfalten kann, gegen eine totalitäre, völkisch-nationalistische, im Kern immer faschistische Ideologie durchsetzen kann, die zum Äußersten entschlossen ist, schon um den Machterhalt zu sichern. Sie muss gewinnen, denn am gar nicht mehr so fernen Horizont lauern die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz. Diese Technologien in den Händen des Faschismus würden ihn unbesiegbar machen. Ein Blick auf China reicht aus, um dies zu sehen. Im Buch gibt es dazu den erhellenden Satz: „Das Ziel jeder agierenden Macht ist die Abschaffung des Ereignisses.“ In so einer Welt müssen Ereignisse nur vorgegaukelt werden, während nichts passiert, außerhalb gezielter, willkürlicher Gewalt nur noch Agonie herrscht.Placeholder infobox-1
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