Neben der Seuche wird das Jahr 2020 auch als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem Bob Dylan über Twitter auf denkbar beiläufige Art zuerst drei Songs in die Welt gleiten ließ, ebenfalls auf diesem Wegwerf-Medium einen rührenden Nachruf auf Little Richard verfasste, den grossen Altvorderen des Rock n’Rolls, und schließlich mit einem neuen Album mit Eigenkompositionen, den ersten seit 2012, die kühnsten Erwartungen seiner Fans übertraf.
Wie die meisten Alben Dylans, nicht mit einem Songtitel benannt, sondern programmatisch einen Ton setzend: Rough and Rowdy Ways. Der Titel ist dieses Mal einem Song von Jimmie Rodgers entlehnt, in dem der mit großartiger Unbekümmertheit seinen hedonistischen Lebensstil verteidigt und preist; auch nach
preist; auch nach seiner Hochzeit. Dylans Album ist da weitaus ernster. Auch wenn sich eine grimmige Ironie wie die Dampflok in Buster Keatons The General durch alle zehn Songs pflügt. Der trügerisch gemächliche Auftakt I Contain Multitudes lässt einen schnell vergessen, dass gleich in der dritten Zeile von „flowers are dying, like all things do“ die Rede ist, der Sänger seinen Verstand verliert, folgen wir ihm nicht wie die Pogues ins Irische Ballinallee (beim ersten Hören glaubte ich tatsächlich „Berlinale“ zu verstehen), er in Blutfehden verstrickt ist und auf den Spuren Poes, Skelette von „people you know“ in seinen Mauern versteckt. Eingebetteter MedieninhaltHier öffnet sich also eher ein Schauer- und Geisterkabinett als eine weitere Beschwörung des guten alten „American Songbook“ wie bei Dylans letzten Alben, an deren Tonalität dieser erste Song aber durchaus anknüpft. Doch nun ist es bereits zu spät. Wie die Biene von der Blüte der Blume angezogen, sitzen wir, fasziniert von dieser Stimme und ihrer Bereitschaft, uns in ihren „Stream of Consciousness“ mit einzubeziehen, in einem der klapprigen und rostigen Wagen dieser Geisterbahn und rumpeln – wie Indiana Jones in einer Lore – an all diesen Gestalten vorbei, die uns der Mann mit den zwei grossen Messern und vier Pistolen im Gürtel, dieser Räuber Hotzenplotz des Songwritings, mit zwei, drei Textzeilen herbeizaubert, nur um sie sogleich wieder im nächsten Bild verschwinden zu lassen. Unerhörter ReichtumWir begleiten ihn zu dem Sound einer Vampyra-Gitarre, die Ed Wood zum Jauchzen gebracht hätte, nächtens auf Friedhöfe, wo er sich die Leichenteile für seine eigene Version von uns (oder einer Geliebten) zusammensucht. Finden uns plötzlich in der „Schönen Nacht, du Liebesnacht“ aus Hoffmanns Erzählung wieder, wo das Frankenstein-Thema um die Schöpfung Lazzaro Spallanzanis variert wird. Tatsächlich gelingt es, diesen wohlbekannten Ohrwurm in eine echte Dylan-Serenade zu verwandeln, einschließlich einem Xylophon, das aus Knochenteilen zusammengezimmert zu sein scheint. Zu hören, wie sich hier „snowwhite dove“ auf „gospel of love“ reimt, ist unvermittelt ergreifend, besingt der Sänger doch wirkliche wahre Liebe für die er in eleganten Reimen unermüdlich seinen Geist – wie andere Leute Schädeldecken – öffnen will, um sich an sie zu verschenken.Gerade in solchen Momenten zeigt sich der unerhörte Reichtum, der sich in diesem Künstlerleben angesammelt hat. Mitunter verändern sich die Farben, die Tonalitäten von Zeile zu Zeile. Drohungen, Zärtlichkeiten, Sehnsucht, Mackertum, Verlorenheit, Bestimmtheit, Vitalität, Hinfälligkeit erscheinen kurz aufeinander. Die Verweise und Zitate, die Anspielungen, die Quellen und Bezüge werden die Fans – um es mit einem Kommentator der New York Times zu sagen – noch lange nach dem Shutdown über dieses Werk gebeugt in ihren Stuben halten. Und das alles getragen von einer Band, die bis in die Haarspitzen durchtränkt ist von den Möglichkeiten, die der ewige Blues bietet. Jedes Riff, jeder Beat, jeder Seufzer ist genau gesetzt. Tight ist gar kein Ausdruck für diesen Sound. Es ist womöglich einer der am besten klingenden Platten des Genres überhaupt. Mehrschichtig, Räume öffnend, Bilder heraufbeschwörend, unaufdringlich virtuos. Just great.Mit Key West endet die Fahrt ins Herz der Finsternis unvermittelt an einem hellen Ort. Der Sänger hat sein Paradies gefunden, zwischen Piratensendern, dem Steg, der auf ein Meer hinaus führt, zwischen Ginsberg und den anderen Beats. Den Verstand, den er in den Songs zuvor auf vielfälltige Weise verloren geglaubt zu haben meint, findet er hier wieder. SpieltDoch das alles wirkt dann doch nur wie ein Prelude zu dem letzten Song, einem knapp 17 minütigen Moritat, das auf einer separaten CD kommt: Murder Most Foul.Tatsächlich erschliesst sich dieser Song – als erstes in die Welt gebracht – in seiner Komplexität und seinem Reichtum erst wirklich, nachdem das ganze Album durch den bereicherten Geist waberte. Hier spricht ganz direkt und im Grunde nicht verkausalisiert, ein Geist zu uns. So wie Hamlet vom Geist seines Vaters angesprochen wird. Wobei auch bei Shakespeare Hamlet für das ahnungslose Publikum steht, während Hamlets Vater für die unsichtbaren Ränke der Geschichte spricht, die eben jeden normal Sterblichen, hört er den Stimmen denn zu, in die Konflikte stürzt, die der Titelheld dann durchzustehen hat. Die Lösung ist, ebenfalls wie bei Hamlet, wo sie ganz konkret im Plot verankert ist – Hamlet inszeniert ein Stück am Hof, in dem er die Wahrheit erzählt – die Lösung ist: das Spiel. Spielt. Spielt auf den Rough and Rowdy Ways. Wenn ihr irgendetwas verstehen wollt in und von dieser räudigen, bis auf die Knochen herunter gerockten Welt, wenn ihr zum Beispiel den Lügen verspritzenden „white faced clown“ im Weissen Haus einfach nicht mehr ertragen könnt, dann spielt. Spielt für den Kretin, spielt für die Heiligen, spielt in den Straßen, spielt in allen Klassen, spielt gegen das Vergessen, spielt wie besessen, spielt für ein Morgen, selbst wenn es für immer verborgen. Spielt und hört dem Spiel der anderen zu. Und wenn Bob Dylan von Spiel spricht, dann meint er Kunst – in all ihren Facetten.
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