Wer Herz erfunden

Schweizbilder Marcel Gislers präziser Film „Rosie“ dementiert die Idee von der sich abschottenden Eidgenossenschaft
Ausgabe 19/2014

Zuletzt lief es nicht gut für die Schweiz. Trauriger Höhepunkt: die „Masseneinwanderungsinitiative“, mit der eine zahlenmäßige Mehrheit von der Größe einer Provinzstadt das ganze Land in die provinzielle Versenkung schickt, weil so durchgesetzt wird, dass Ausländer von nun an per Gesetz kontingentiert werden.

Alpenländische Folklore mit kristallklaren Bergbächen, schneebetupften Bergspitzen hinter weidenden Milchkühen, schweigsamen, pfeifenrauchenden Männchen, die sich auch von einem Uwe Ochsenknecht die Geheimnisse ihres Käses nicht entlocken lassen, das vorwitzige Erfinderlein eines Hustendropses; alles irgendwie schal geworden. Ahnt der Rest der Welt doch längst, dass es die abstrakten, durch das Land fließenden Kapitalflüsse sind, welche prägend auf die schweizerische Identität einwirken und eine Gesellschaft reich, satt und auf geradezu unanständige Art selbstgefällig gemacht haben. Materialismus nicht als Einstellung, sondern als Eigenschaft.

Und doch startet nun ein Film, der von einer ganz anderen, erstaunlich warmherzigen, den Menschen zugewandten Swissness erzählt. Plötzlich leuchtet die dem Neorealismus verpflichtete Tradition eines Kurt Früh auf, dem wohl sorgfältigsten Chronisten der sogenannten kleinen Leute, Schöpfer wahrer Preziosen der filmischen Darstellung eidgenössischer Mentalität in den 40er und 50er Jahren. Rosie heißt der Film, gedreht hat ihn der seit 30 Jahren in Berlin lebende und arbeitende Schweizer Filmemacher Marcel Gisler.

Lorenz, Sophie, Rosie

Tatsächlich zieht Rosie einen großen Teil seines erzählerischen Reizes aus der Außenansicht. Gisler schaut aus der Ferne genau hin, konfrontiert seinen Helden mit den mitunter befremdlichen Befindlichkeiten einer in Wohlstand gebetteten Gesellschaft, durch die mitunter eine eigentümliche Kälte weht. Bis der Protagonist die Kälte in sich selber zu spüren und damit womöglich zu überwinden lernt.

Lorenz lebt als namhafter Schriftsteller in Berlin und kommt in sein Ostschweizer Heimatdorf Altstätten, um zusammen mit Schwester Sophie für Rosie zu sorgen, beider Mutter. Nach einem Sturz ist sie bettlägerig. Die Frage nach Einweisung in ein Heim steht im Raum. Für die dem Alkohol und ruppigen Umgangsformen zugeneigte Rosie selbstverständlich keine Option.

Wie die Schauspielerin Sibylle Brunner die vielen Facetten dieser äußerst lebendig und ambivalent gestalteten Mutterfigur herausarbeitet, ist im neueren deutschsprachigen Kino ziemlich einzigartig. Hier wird eine komplexe Figur mit Ecken und Kanten, von geradezu urtümlicher, in der Schweiz schon fast verschwundener Widerständigkeit gezeichnet. Im Kampf um ihre Würde entfaltet sie dabei eine erstaunliche Größe und rückt nach und nach mit dem seit Jahrzehnten verschütteten Familiengeheimnis heraus. Plötzlich sehen die Kinder ihre Geschichte in einem anderen Licht.

Geschickt tragen Marcel Gisler und sein Ko-Autor Rudolf Nadler Schicht für Schicht dieses Dramas ab, bis am Ende eine Emotionalität zu Tage kommt, die ich in der Eidgenossenschaft nicht mehr für möglich gehalten hätte. Bis in die kleinsten Nebenrollen versammelt Gisler dafür ein Ensemble von bestens geführten Schauspielerinnen. Jede Szene hat die Zeit, die sie benötigt, und so entsteht eine fesselnde, atmosphärische Dichte, in der am Ende die allerkleinste Geste den Bogen zum Großenganzen schlägt.

Es scheint, dass der Schweizer Film mit Rosie zurückgekehrt ist auf europäisches Parkett. Der Film konterkariert Engstirnigkeit und eröffnet Einblicke in die Gesellschaft, aus der er kommt. Herzlich willkommen.

Rosie Marcel Gisler CH 2013, 106 Min.

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